
Die gesellschaftliche Deutung des Kriegsendes 1945 von konservativer und antifaschistischer Seite stand im Zentrum der Veranstaltung „Vom Kriegsende bis zur Weizsäcker Rede. Die umkämpfte Deutung des 8. Mai“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Ein geschichtsträchtiges Datum
Eine repräsentative Umfrage kam 2020 zu dem Ergebnis, dass 80 Prozent der Deutschen den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ bewerten. Andere Umfragen hingegen besagen, dass viele Menschen einen „Schlussstrich“ unter den Nationalsozialismus ziehen wollen. Doch um welchen Tag geht es? In den Niederlanden wird der 5. Mai als Tag der Befreiung gefeiert, während die deutschen Truppen in Berlin schon am 2. Mai 1945 kapitulierten. Am 7. Mai unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl die deutsche Gesamtkapitulation im französischen Reims. Auf Wunsch Josef Stalins wurde dies am frühen Morgen nach Moskauer Zeit im von der Roten Armee kontrollierten Berlin wiederholt – gemäß mitteleuropäischer Zeit also der 8. Mai.
Aus NS-Täter*innen werden Opfer
Die Mehrheit der Deutschen, die sich als Teil der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft sah, empfand das Kriegsende am 8. Mai nicht als einen Tag der Befreiung. Carlo Schmid (SPD) bezeichnete 1946 in einer Rede die deutschen Kriegsgefangenen, Vertriebenen und Witwen als Opfer des Nationalsozialismus. Demgegenüber stünde eine kleine Gruppe von Nutznießern. Mit dieser Erzählung sollte die breite Bevölkerung von der Ideologie des Dritten Reichs gelöst und für die neue Demokratie gewonnen werden. Allerdings wurden damit Mittäter*innen ebenso wie Mitläufer*innen zu Opfern umgedeutet.
Gedenken in der DDR
In der DDR gehörte der 8. Mai zum integralen Bestandteil ihres Gründungsmythos. Das Kernelement bildet die Befreiung durch die Rote Armee, die sich in der ständigen Freundschaft zur Sowjetunion widerspiegelte. Auch beschränkte sich die staatliche Fokussierung allein auf den kommunistischen Widerstand. So kam es zu einem Personenkult um den 1944 im Konzentrationslager Buchenwald ermordeten KPD-Führer Ernst Thälmann. So konnten sich auch DDR-Bürger*innen mit Thälmanns Widerstand identifizieren und sich letztendlich als Sieger*innen fühlen. Die individuelle Schuld der Deutschen wurde jedoch ausgeblendet.
Alt-Nazis in Amt und Würden
In der Bundesrepublik prägte man mit Blick auf das Kriegsende den Begriff der „Stunde Null“. Dies war Kennzeichen einer Gesellschaft, die von der Vergangenheit nichts mehr wissen wollte. Stattdessen lebte man nur im Hier und Jetzt. In den 1960er Jahren saßen in westdeutschen Ministerien und Behörden zahlreiche ehemalige NSDAP-, SA- oder SS-Mitglieder – deutlich mehr als in der DDR. Im Bonner Innenministerium machten sie etwa 70 Prozent der Beschäftigten aus. Der Kommentator der Nürnberger Rassegesetze von 1938, Hans Globke, wurde etwa Kanzleramts-Chef unter Konrad Adenauer.
„Tag der Vernichtung“
Der Wehrmacht attestierte man soldatische Pflichterfüllung bei der Verteidigung der deutschen Heimat, die Vertriebenenverbände kultivierten die Erzählung, Opfer der Roten Armee zu sein, während das Lied „Hundert Mann und ein Befehl“ den Mythos der „sauberen Wehrmacht“ in jedes Wohnzimmer und Tanzlokal brachten. Der FDP-Politiker und spätere Bundespräsident Theodor Heuss sagte, die Deutschen seien am 8. Mai sowohl erlöst als auch vernichtet worden. Dem widersprachen der hessische Generalstaatsanwalt, der Soziologe Theodor W. Adorno und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), indem sie den 8. Mai zum Tag der Befreiung erklärten. Dies wurde jedoch als Sympathie zur DDR gelesen, ab 1950 kann eine VVN-Mitgliedschaft zum Ausschluss aus dem öffentlichen Dienst führen.
Die Serie „Holocaust“
Zu einem gesellschaftlichen Umdenken kam es erst in den 1970er Jahren. Hans Filbinger hatte als Marine-Richter Todesurteile gefällt, später wurde der CDU-Politiker Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Nach einer tiefgreifenden Debatte um seine NS-Vergangenheit trat er 1978 zurück. 1979 kam die vierteilige US-Serie „Holocaust“ ins deutsche Fernsehen, die sich um eine jüdische Anwaltsfamilie aus Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus dreht. 20 Millionen Deutsche sahen mindestens eine der Folgen, die eine maßgebliche Stärkung der Opferperspektive darstellte. In der deutschen Fassung erklärt ein NS-Mitläufer: „Wir müssen erkennen ,dass wir uns alle schuldig gemacht haben.“ Begleitet wurde die Ausstrahlung von Dokumentationen und unterschiedlichen Gesprächsformaten. In der DDR lief schon 1972 die Mini-Serie „Die Bilder des Zeugen Schattmann“.
Weizäcker vs. Kohl
In dieser Zeit begannen Aktivist*innen, sich mit der NS-Vergangenheit in ihrem Umfeld zu beschäftigen. Es kam zu zahlreichen lokalen Geschichtswerkstätten und Gedenkstätten-Initiativen. So wurde die NS-Geschichte durch diese Graswurzelbewegungen flächendeckend im öffentlichen Raum verankert. 1985 erklärte Bundespräsident Richard von Weizäcker (CDU): „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Denn er habe alle von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befreit. Zuvor hatte sein Parteikollege, Bundeskanzler Helmut Kohl, klargestellt, ein positives Bild der deutschen Geschichte vermitteln zu wollen. So sollten die „guten 1.200 Jahre deutscher Nationalgeschichte“ nicht von den 12 Jahren der NS-Vergangenheit überdeckt werden. Wenige Tage vor Weizäckers Rede traf Kohl sich mit US-Präsident Ronald Reagan auf einem Soldatenfriedhof, auf dem Angehörige der Waffen-SS lagen.
Weiterführende Links:
- RLS (7.5.2025): Vom Kriegsende bis zur Weizsäcker-Rede. Die umkämpfte Deutung des 8. Mai – https://www.youtube.com/watch?v=gtTzAG3oRjU
- Tim Schleinitz und Constantin Hühn: Kontroverse und Kanonisierung: Die umkämpfte Deutung des 8. Mai – https://www.rosalux.de/mediathek/media/collection/425
- Die Linke SC-RH (16.4.2025): Bundespräsidenten und Nationalsozialismus – https://www.die-linke-schwabach-roth.de/geschichte/bundespraesidenten-und-nationalsozialismus/
- Schmitt, Robert (16.5.2024): Gedenkfeier. Am Rother Marktplatz wurde an das Ende des 2. Weltkriegs erinnert – https://www.die-linke-schwabach-roth.de/kommunalpolitik/gedenkfeier-am-rother-marktplatz-wurde-an-das-ende-des-2-weltkriegs-erinnert/