Der 8. Mai und die Welt

31. Juli 2025  Geschichte
Geschrieben von Kreisverband

Vier republikanische Soldaten werden 1948 im Indonesischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Niederlande festgenommen. Die Königliche Niederländisch-Indische Armee verübte zahlreiche Kriegsverbrechen. (Nationaal Archief, gemeinfrei)

Die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus, aber auch die der einstigen Kolonien von der europäischen Fremdherrschaft, standen im Fokus des Vortrags „Variationen zum Thema Befreiung“. Charlotte Wiedemann sprach anlässlich des Stiftungssymposiums von Medico International.

Die „verführten“ Deutschen?

„Was ist am 8. Mai geschehen?“, fragte Charlotte Wiedemann mit Blick auf den „Tag der Befreiung“. Bei seiner berühmten Rede 1985 zählte Bundespräsident Richard von Weizäcker auch die allermeisten Deutschen zu den Opfern. So erklärte er: „Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient.“ In dieser Lesart sei die Mehrheit der Deutschen von einigen wenigen in die Irre geleitet worden – was eine starke Entlastungsfunktion für die eigenen Verbrechen darstellte.

Verzerrte Wahrnehmung

„Die Erlösung kam durch die Identifikation mit den Opfern“, erläuterte die Journalistin. Somit wurde diese Selbstgerechtigkeit Bestandteil der staatlichen Erinnerungskultur. Das hat Auswirkungen auf die Gegenwart: Aktuellen Umfragen zufolge glauben 54 Prozent der Deutschen, ihre Vorfahren seien Opfer des Nationalsozialismus gewesen. „30 Prozent gehen davon aus, ihre Familien seien aktiv im Widerstand gegen Hitler beteiligt gewesen“, nannte sie weitere Zahlen. Dabei wären nur 0,3 Prozent der Bevölkerung in Opposition zum NS-Regime gewesen – also eine Verzerrung um das Hundertfache.

Befreiung und Rassentrennung

Befreit wurden die Lager mit den Unterdrückten und Eingekerkerten, Zwangsarbeiter*innen und Jüd*innen – nicht die deutsche Nation. In dieser Zeit kämpften mehr als eine Million schwarzer GIs in der US-Armee. Doch obwohl sie bei der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Dachau beteiligt waren, sind sie nicht auf den Fotos zu sehen. „Die Regierung unter Donald Trump hat die Fotos schwarzer US-Piloten von der Website der US-Streitkräfte löschen lassen, da diese zu ,woke‘ sind“, schlug Wiedemann den Bogen zur Gegenwart. Und als die schwarzen GIs heimkehrten, gab es für sie keine Tapferkeitsmedaillen, sondern rassistisch segregierte Bus- und Parkbänke.

Krieg gegen Zivilbevölkerung

Am 8. Mai 1945 kam es in Algerien zu dem Massaker von Sétif, bei dem Forderungen nach Gleichheit und der Unabhängigkeit von Frankreich laut wurden. Bei den darauf folgenden gewalttätigen Auseinandersetzungen wurden durch das Militär und französische Selbstverteidigungseinheiten zehntausende Algerier*innen getötet. „Im Kampf gegen die algerische Zivilbevölkerung griff die französische Regierung auch auf ehemalige Wehrmachtssoldaten zurück“, schilderte Wiedemann die Verschiebung der Feindbilder im Zuge des Algerischen Unabhängigkeitskriegs.

Freiheitskampf gegen die Niederlande

Das Japanische Kaiserreich kapitulierte am 2. September 1945, kurz darauf erklärte Indonesien nach über 350 Jahren Kolonialherrschaft seine Unabhängigkeit von den Niederlanden. Es folgten Kriegsverbrechen und Massenexekutionen der Königlichen Niederländisch-Indischen Armee (KNIL) an indonesischen Widerstandskämpfer*innen. „Nach den Kriterien der Nürnberger Prozesse wären das Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen“, rief sie die juristische Aufarbeitung in Europa in Erinnerung. Allerdings verzichtete man auf Druck der europäischen und US-amerikanischen Kolonialmächten, die Massentötung der multiethnischen indigenen Bevölkerung in die UN-Genozid-Formulierung aufzunehmen.

Freiheit für Israel und Palästina

Der UN-Teilungsplan für Israel und Palästina von 1947 wurde mit 33 Stimmen der damaligen 57 Länder angenommen – heute gibt es 193 UN-Mitgliedsstaaten. „Indien strebte gemeinsam mit Jugoslawien und Iran eine föderale Lösung mit einem jeweils autonomen jüdischen und arabischen Teilstaat an“, erinnerte Wiedemann. Doch wurde dieser Plan abgelehnt. Für sie sei das gleichberechtigte Zusammenleben der Menschen der Schlüssel für eine gelingende Zukunft, erläuterte sie mit Blick auf illegale israelische Siedlungen und massiven Razzien und Verhaftungen im Westjordanland.

Die Konferenz von Bandung

1955 trafen sich Vertreter*innen aus 29 Staaten Afrikas und Asiens sowie verschiedener Befreiungsbewegungen bei der Konferenz von Bandung auf der indonesischen Insel Java. „Mit fast 1,5 Milliarden Menschen repräsentierten sie mehr als die Hälfte der damaligen Weltbevölkerung“, wies sie auf die Bedeutung des Treffens hin. Der indonesische Präsident Sukarno sah darin einen Neuanfang in der Geschichte der Welt. „Hier entwickelte man einen dritten Weg jenseits des kapitalistischen Westens und der staatssozialistischen Sowjetunion – die Wiege der blockfreien Staaten“, erläuterte Wiedemann. Acht Monate nach der Konferenz weigerte sich Rosa Park in Montgomery, Alabama, ihren Sitzplatz in einem Linienbus für einen Weißen zu räumen. Das war der Auftakt zum großen Busboykott und ein Meilenstein in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.

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