Die Polykratie im NS-Staat

25. Oktober 2024  Geschichte
Geschrieben von Kreisverband

Grafik: Rosa-Luxemburg-Stiftung

Der nationalsozialistische Staat als Treffpunkt vierer Machtgruppen, die konkurrierende Interessen, aber Gemeinsamkeiten im Profitstreben und der Angst vor den Massen haben. So charakterisierte der Politikwissenschaftler Franz Neumann in seinem Werk „Behemoth“ das Dritte Reich. Sein Buch wurde in der 42. Folge des Theoriepodcasts der Rosa-Luxemburg-Stiftung besprochen.

Revolutionär und Rechtsanwalt

Franz Neumann wurde 1900 in eine säkulare jüdische Familie in Kattowitz/Oberschlesien geboren. 1918 beteiligte er sich an der Novemberrevolution und promovierte 1923 in Jura. Als Rechtsanwalt lag sein Fokus auf Arbeitsrecht, er beriet Gewerkschaften und den Vorstand der SPD. 1933 emigrierte er nach Großbritannien, wo er 1936 erneut promovierte. Anschließend ging er nach New York und arbeitete mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer am Institut für Sozialforschung. 1942 war er für die US-Regierung als Deutschland-Experte tätig und an den Anklageschriften für die Nürnberger Prozesse beteiligt. Mit 48 Jahren erhielt er eine Professur an der Columbia University, begründete die deutsche Politikwissenschaft und starb 1954 bei einem Autounfall in der Schweiz.

Der ungeheuerliche Unrechtsstaat

Das Buch „Behemoth“ entstand 1941/42 und bezieht sich mit seinem Titel auf die jüdische Eschatologie. Behemoth ist ein Ungeheuer, das auf dem Land für Chaos und Verwüstung sorgt. Ihm gegenüber ist der Leviathan, ein mächtiges Seeungeheuer. Damit griff Neumann auch einen mythischen Vergleich des NS-Juristen Carl Schmitt auf, der dem nationalsozialistischen Deutschland das handelsorientierte und krämerhafte England als „Leviathan“ entgegenstellte. Mit der Bezeichnung „Behemoth“ sah er im Dritten Reich einen Unrechtsstaat, in dem es weder Recht noch Gesetz gab.

Überwindung des Kapitalismus?

Stalin propagierte mit seiner „Sozialfaschismus-These“, dass die Sozialdemokratie die treibende Kraft hinter dem Nationalsozialismus sei. Dem widersprach der bulgarische Kommunist Georgi Dimitroff, der die Gefahr im reaktionären und imperialistischen Finanzkapital sah. Neumann kritisierte jedoch auch diese Auffassung, da seiner Einschätzung nach durch das Eingreifen des Staates in die Wirtschaft der Kapitalismus in Deutschland aufgehoben würde. So käme es nämlich zu einer totalitären Monopolwirtschaft.

Konkurrierende Gruppierungen

Doch handele der Nationalsozialismus keineswegs stringent entsprechend einer politischen oder wirtschaftlichen Theorie, sondern sei rein pragmatisch auf eine machtorientierte Praxis ausgerichtet. Innerhalb des „Führerstaates“ gäbe es die vier Machtgruppen Partei, Ministerialbürokratie, Wirtschaft und Militär, die sich wie Gangster verhielten. Hitler sei als Führer darauf aus, einen Interessensausgleich dieser Gruppierungen zu schaffen. Bürokratische Parallelstrukturen und erbitterte Konkurrenzverhältnisse – etwa zwischen Wehrmacht und Waffen-SS oder dem Reichsarbeitsminister und dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz – widersprachen dem Idealbild eines hierarchisch straff organisierten Führerstaates (Polykratie).

Profit als gemeinsamer Nenner

Neumann zufolge wird der Nationalsozialismus trotz konkurrierender Interessen durch Profit, Gewalt und die Angst vor den Massen zusammengehalten. Weder wird das Eigentum an den Produktionsmitteln noch die Unternehmer als Mitglieder der bürgerlichen Klasse angegriffen. Vielmehr teilen sich in den Aufsichtsräten großer Konzerne Parteifunktionäre, Beamte und private Manager die Plätze untereinander auf. Denn ihr größter Gegner, die Arbeiter*innenbewegung, ist nach der Zerschlagung der Gewerkschaften ausgeschaltet. Der Antisemitismus dient als Speerspitze des Terrors, durch den alle Gesellschaftsschichten an dem Vernichtungsprozess der Jüd*innen beteiligt werden. Allerdings beleuchtet Neumann in seinem Buch nur unzureichend, warum der Nationalsozialismus bei den Arbeiter*innen so großen Anklang fand.

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