Den Umschwung in Lenins Denken vom Befürworter der proletarischen Rätebewegung zum Unterdrücker der Demokratiebestrebungen in den Betrieben und der Politik machte Michael Brie in seinem Vortrag „Lenins 150. Geburtstag“ deutlich. Dieser wurde vom Kurt-Eisner-Verein Bayern und lokalen Rosa-Luxemburg-Stiftungen (RLS) organisiert.
Gegen militaristische Sozialdemokratie
Im August 1914 ist Lenin, der sich im Schweizer Exil befindet, entsetzt, dass die SPD die deutschen Kriegskredite unterstützt. Denn seiner Einschätzung nach könne nur ein Bürgerkrieg in den europäischen Staaten den Krieg der imperialen Staaten beenden. So setzt er auch mit der einigenden Erzählung des Verrats der einst antimilitaristischen Sozialdemokratie, die sich der kaiserlichen Burgfriedenspolitik anschließt, den Grundstein für künftige kommunistische Parteien. „Karl Marx ging von Arbeiter*innen-Revolutionen in Westeuropa und einer Revolution der Bäuer*innen in Russland aus“, erklärte Michael Brie dessen Zukunftsvision. Lenin hingegen schloss sich der „Permanenten Revolution“ Leo Trotzkis an, die dieser 1905 entwickelte. Die Schwäche der Bourgeoisie müsse eine Machtübernahme sowie eine sozialistische Politik („April-Thesen“) zur Folge haben.
Gegen Arbeiter*innen und Demokratie
In „Staat und Revolution“ (1917) verband Lenin anarchistische Vorstellungen der Rätedemokratie – etwa radikale Vereinfachung der Regierungsgeschäfte, Volksbewaffnung und Abschaffung der Bürokratie – mit einer klar gegliederten Staatsorganisation unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei (Bolschewiki). So legitimierte er etwa den Einsatz von staatlicher Gewalt gegen Arbeiter*innen, wenn diese nicht die gemeinsamen Interessen vertraten. Somit handelte er konsequent nach seinem Satz „Wo es Gewalt gibt, gibt es keine Freiheit und keine Demokratie.“
Sturz der gewählten Regierung
Im Agrarbereich kopierte Lenin das politische Programm der gegnerischen Sozialrevolutionär*innen und forderte darüber hinaus „Alle Macht den Räten“, „Arbeiter*innenselbstverwaltung“ und „Frieden“. So konnte er viele Soldaten, Arbeiter*- und Bäuer*innen hinter sich versammeln und gemeinsam mit Trotzki die Provisorische Regierung in der Oktoberrevolution stürzen. Dadurch wurde er zum führenden Repräsentanten der neuen Sowjetregierung.
Tod der Republik
Aus ihren Erfahrungen der Ersten Russischen Revolution (1905) hatte Rosa Luxemburg jedoch schon prognostiziert, dass es keine politische Mehrheit für eine sozialistische Gesellschaft gäbe. Diese Analyse wurde durch die Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung im November 1917 bestätigt, bei der die Bolschewiki mit etwa 25 Prozent weit hinter den Sozialrevolutionär*innen lagen. „Daraufhin erklärte Lenin der bürgerlichen Republik den Kampf auf Leben und Tod“, beschrieb Brie die Reaktion des kommunistischen Politikers.
Die Partei hat immer recht
Der nun ausbrechende Bürgerkrieg kostete 10 Millionen Menschen das Leben. Dabei wurden die Befürchtungen Michail Bakunins wahr. Der Anarchist hatte schon in den 1870er Jahren gewarnt, dass die Zentralisierung der Macht in Form der „Diktatur des Proletariats“ unweigerlich in die Despotie führe. Denn die einmal erlangte Befehlsgewalt würde nie wieder freiwillig abgegeben werden. Mit dieser Einschätzung lag er richtig. „Wenn Demokratie und Freiheit die Macht der Bolschewiki gefährdeten, konnten sie Lenin zufolge außer Kraft gesetzt werden“, kommentierte der RLS-Mitarbeiter. Denn da die Partei die richtige Analyse besitze, müssten sich die Massen, die dem widersprächen, irren, so Lenins Logik. Der alleinige Wahrheitsanspruch mache somit jegliche Demokratie überflüssig.
Keine Macht den Räten
In dem Moment, in dem demokratische Selbstorganisation und Meinungsfreiheit zur Kritik an der Parteiherrschaft führen, seien diese zu bekämpfen. Die Folge waren Repressionen gegen Gewerkschafter*innen und Beschlüsse der parteiunabhängigen Räte (Sowjets), sobald diese das Regierungshandeln der Bolschewiki hinterfragten. 1918 wurden die Räte gemäß der Parteidoktrin gleichgeschaltet und nur solche Personen in die Sowjets gewählt, die zuvor von der Partei dazu bestimmt wurden. „So wurde die propagierte ,Sowjetmacht‘ sehr schnell zu einem bolschewistischen Parteistaat“, fasste Brie das Ende der proletarischen Demokratiebewegung zusammen.
Gegen Wirtschaftsdemokratie
Ebenso wie gegen die Sowjets wurde von staatlicher Seite auch gegen die einst ausgerufene Arbeiter*innenselbstverwaltung konsequent vorgegangen. Denn der Bürgerkrieg führte zu einer wirtschaftlichen Zentralisierung, obwohl gemäß dem Parteiprogramm der Bolschewiki eigentlich die Gewerkschaften die Produktionsleitung in den Fabriken übernehmen sollten. Dieser anarcho-syndikalistische Grundsatz wurde nach dem Ende des Bürgerkriegs von Alexandra Kollontai eingefordert. Dem setzte Trotzki eine Ultrazentralisierung und somit die totale Entmachtung der Gewerkschaften entgegen. Denn eine von der Partei unabhängige und selbstbewusste Arbeiter*innenselbstverwaltung hätte das Machtmonopol der Bolschewiki infrage gestellt.
Luxemburg gegen Lenin
So legte Lenin den Grundstein für die Strukturen des Geheimdienstes, der bürokratischen Elitenherrschaft und der führenden Rolle der Partei, die durch Stalin noch ausgebaut werden sollten. Ebenso befürwortete Lenin die Ermordung von Menschen, allein um ihre Mitmenschen in Angst und Schrecken zu versetzen (Terror). Ihm sei es völlig egal gewesen, ob die Getöteten schuldig oder unschuldig gewesen seien, kritisierte der Philosophieprofessor. So wurden die Angehörigen der bürgerlichen Klasse nicht etwa wegen tatsächlichem Widerstand gegen die neue Regierung, sondern allein wegen ihrer Klassenzugehörigkeit verfolgt. Dem widersprach Rosa Luxemburg aufs Schärfste. Denn sie sah Sozialismus in revolutionärer Tatkraft gepaart mit weitherziger Menschlichkeit – und nicht in machtmotiviertem Massenmord.
Von Lenin zu Stalin
1922 sorgte Lenin schließlich dafür, dass Stalin Generalsekretär der Partei wurde. Auf diesem Posten brachte der Georgier zahlreiche ihn unterstützende Parteibürokraten ins Politbüro. In seinem „Politischen Testament“ kritisierte Lenin schließlich sämtliche Alternativkandidaten für seine Nachfolge, etwa Trotzki oder Bucharin, aufgrund ihrer angeblichen ideologischen Fehler. Bei Stalin hingegen monierte er lediglich dessen persönlichen Charaktereigenschaften. Als Lenins Nachfolger an die Macht gekommen, schaltete Stalin die früheren Genoss*innen aus. Die Diktatur war vollendet.
Weiterführende Links:
- Kurt Eisner Verein (29.4.2020): Lenins 150. Geburtstag. Vortrag von Michael Brie – https://www.youtube.com/watch?v=Mtz8XyPTtS8
- Die Linke SC-RH (3.5.2022): Lenin. Was tun? – https://www.die-linke-schwabach-roth.de/geschichte/lenin-was-tun/
- Die Linke SC-RH (15.9.2023): Rosalux History. Die Oktoberrevolution – https://www.die-linke-schwabach-roth.de/geschichte/rosalux-history-die-oktoberrevolution/