Die humanitäre Lage in Gaza

12. August 2024  International
Geschrieben von Kreisverband

Zerstörte Gebäude im Gaza-Krieg 2023 (Tasnim News Agency, CC BY-SA 4.0)

Die humanitäre Situation in Gaza und dem Westjordanland infolge des durch das Hamas-Massaker ausgelösten Gaza-Krieges war Thema bei der Veranstaltung „Von Rafah bis Jenin“. Dabei sprach der Nahost-Experte Othman von medico international beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein über seine Erkenntnisse.

Sperranlagen seit den 90ern

Die Abriegelung Gazas sei keine Reaktion auf die Massaker des 7. Oktober, verdeutlichte Riad Othman von medico international, sondern habe schon eine jahrzehntelange Vorgeschichte. „Die ,Politik der offenen Tür‘, die seit 1972 billigen palästinensischen Arbeitskräften den Zugang nach Israel ermöglichte, wurde in Folge der Ersten Intifada – des ,Aufstands der Steine‘ – eingestellt“, erklärte er. Dies führte dazu, dass Studierende aus Gaza beispielsweise nicht mehr an ihre Hochschule ins Westjordanland konnten. „Schon vor dem Regierungsantritt Netanjahus 1996 war die erste Sperranlage rund um Gaza fertiggestellt“, sagte der Nahost-Referent.

Eine hermetische Abriegelung

Zwar sei diese in der Zweiten Intifada, die 2000 ausbrach, zerstört, jedoch schnell wieder aufgebaut worden. Mit dem Wahlsieg der Hamas 2006 und dem Bruch der „Nationalen Regierung“ zwischen Fatah und Hamas ein Jahr später verschärfte sich die Situation, da die israelische Regierung mit einer hermetischen Abriegelung reagierte. Gab es im Jahr 2000 monatlich etwa 500.000 Übertritte an der Sperranlage, sank die Zahl bis zum September 2023 – also vor dem Hamas-Massaker – auf 58.000. Letztere Zahl beinhaltet sowohl Patient*innen, die in israelischen Kliniken behandelt werden mussten, als auch Geschäftsleute und Arbeiter*innen auf israelischen Plantagen.

Weder Arbeit noch Baumaterial

Unter der Herrschaft der Hamas lag die Arbeitslosigkeit bei 45 Prozent, bei den Jugendlichen bei 80 Prozent und bei Frauen noch höher. Der Gazastreifen hat mit einem Durchschnittsalter von 19,5 Jahren eine der jüngsten Bevölkerungen weltweit. Die Hälfte der Menschen ist unter 15 Jahren. Da die israelische Regierung die Einfuhr von militärisch nutzbaren Materialien wie Zement, Baustahl oder Holz untersagt, fehlten vor Kriegsausbruch 71.000 Wohnungen. 80 Prozent der Bevölkerung war auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Verhandlungen oder Militäreinsatz?

Am 7. Oktober 2023 wurden 1.200 Israelis von der Hamas ermordet – die meisten davon Zivilist*innen. 240 Menschen wurden als Geiseln verschleppt. In Israel führte der Angriff zu 150.000 Binnenflüchtlingen. Im Mai 2024 sahen 56 Prozent der Israelis die Priorität bei einem Abkommen zur Freilassung der Geiseln, während 37 Prozent sich für eine Militäroffensive bei Rafah aussprachen. „Die Wähler*innen der Parteien ,Religiöser Zionismus‘ und ,Jüdische Stärke‘ stimmten mit über 90 Prozent für einen militärischen Angriff“, erläuterte Othman das Verhalten der religiös-rechtsextremen Gruppierungen.

Ziele nicht erreicht

Nach dem Angriff einzelner Ziele in Gaza durch die israelischen Streitkräfte (IDF) kam es zur vollständigen Abriegelung des Gazastreifens. Doch trotz eines massiven Militäreinsatzes konnten die Ziele – die Vernichtung der Hamas und die Befreiung der Geiseln – nicht erreicht werden. „Die einzige Geiselbefreiung in größerem Umfang ging auf Verhandlungen um eine Feuerpause zurück“, erinnerte Othman. Bei einer militärischen Befreiung hatten israelische Streitkräfte irrtümlicherweise drei Geiseln erschossen. Der Sprecher der IDF, Daniel Hagani, geht mittlerweile davon aus, dass die Hamas auf militärischem Weg nicht zerschlagen werden könne.

Zehntausende zivile Opfer

70 Prozent der in Gaza Getöteten sind Frauen, Jugendliche und Kinder (38.348), mehr als 88.295 Menschen wurden verletzt, 10.000 gelten als vermisst. 80 Prozent der Bevölkerung sind Binnenvertriebene. Im Westjordanland, wo offiziell kein Krieg herrscht, wurden bis Anfang Juni 319 Rettungswagen angegriffen und 54 Gesundheitseinrichtungen attackiert. 528 Menschen wurden – etwa durch Kampfhubschrauber, -flugzeuge, bewaffnete Drohnen oder Artilleriebeschuss – getötet. In Gaza wurden 113 Rettungswagen angegriffen, 32 Krankenhäuser zerstört und 102 Gesundheitseinrichtungen attackiert. Dort starben 727 Menschen.

Weder Wasser noch Nahrung

Im Gazastreifen funktionieren weder Klär- noch Entsalzungsanlagen. Nur 17 Prozent der Grundwasserquellen liefern Trinkwasser. Laut WHO liegt das absolute Lebensminimum bei 7 Liter Wasser pro Person, in Gaza verfügen die Menschen über 1,5 Liter. Es grassieren Infektionen wie Durchfall oder Atemwegserkrankungen. „In Rafah stieg die Bevölkerung durch die Binnenvertriebenen von 300.000 auf 1,4 Millionen Menschen, erklärte Othman. So lebten auf einem Quadratkilometer 23.000 Menschen (Nürnberg: 2.805, Stand 2022). 63 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen, darunter auch viele jahrhundertealten Olivenhaine, sind zerstört.

„Eine Hungersnot ist plausibel“

Vor Ausbruch des Gaza-Kriegs war die Bevölkerung täglich auf 500 Lastwagenlieferungen humanitäre Hilfe angewiesen. Nach der Schließung der Grenzübergange sowie der Zerstörung von Landwirtschaft und Infrastruktur erreichten durch das US-Pier an der Küste lediglich 17 Ladungen pro Tag die Region. Das Famine Review Commitee bilanzierte, dass es das Auftreten von Hungersnöten in Gaza – sollte keine Verbesserung der Versorgungslage eintreten – für plausibel halte. Doch da den Expert*innen seitens der IDF der Zugang zu den Gebieten in Nord-Gaza, Gaza-Stadt und Chan Junis untersagt wurde, könne man keine wissenschaftlich verifizierte Aussage treffen, ob es dort schon zu Hungersnöten gekommen sei.

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