Inflation, Armut und ungeheure Flüchtlingszüge, um den Angriffen der israelischen Armee zu entgehen, sind Alltag im Libanon. Imad Mustafa sprach bei der Veranstaltung „Ausweitung der Kampfzone. Zum Krieg in Gaza und dem Libanon“ über seine Erfahrungen im Krieg Israels gegen die Hisbollah. Der Vortrag wurde von Medico International organisiert.
Armut und Arbeitslosigkeit
Für Imad Mustafa hat die Katastrophe des Libanons schon lange vor der israelischen Invasion begonnen. „Das Land war bereits in einem sehr schlechten wirtschaftlichen und politischen Zustand“; erklärte er. 2020 etwa wurde die Nationalbank zahlungsunfähig, die Schulden betrugen 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zahlreiche Menschen verloren ihre gesamten Ersparnisse und die Mittelschicht stürzte in die Armut. Als Folge der Wirtschaftskrise kam es zu Massenarbeitslosigkeit.
Inflation und Kriegsbeginn
Im August 2020 kam es zur gewaltigen Explosion im Hafen, als sich 2750 Tonnen Ammoniumnitrat entzündeten – mitten in der Corona-Pandemie. Durch die Hyperinflation brauchte man 90.000 libanesische Pfund, um einen Dollar tauschen zu können. Auch gab es bis zu zehn Stromausfälle am Tag. „Am 8. Oktober 2023 begann der Krieg mit einem Raketenbeschuss der Hisbollah auf Israel“, beschrieb der Medico-Verantwortliche für Libanon & Menschenrechte die weitere Eskalation. In Nordisrael mussten 70.000 Menschen ihre Häuser verlassen.
Dörfer werden gesprengt
Die israelischen Gegenschläge führten zur Auslöschung ganzer Dörfer im Südlibanon. Dies führte etwa dazu, dass tausende aus der Provinzhauptstadt Nabatäa, die einst rund 250.000 Einwohner*innen zählte, flohen. Andere Ort wurden gänzlich zu Geisterstädten, etwa 130 Siedlungen sind vollkommen menschenleer. „Ganze Orte sind von der israelischen Armee in die Luft gesprengt worden“, schilderte Mustafa das Vorgehen. Auch Großstädte wie Tyros und Sidon, ebenso wie Tripolis im Norden des Landes wurden attackiert. Da in den von der IDF beschossenen Stadtteilen von Beirut mehr als 100.000 Menschen lebten, starben bei jedem Luftschlag Zivilist*innen.
Menschen fliehen nach Syrien
„2.600 Menschen sind getötet und 12.000 verletzt worden“, nannte er Zahlen. Unter den Toten seien auch 163 Ärzt*innen oder Rettungssanitäter*innen, die bei der Ausübung ihrer Arbeit starben. Man gehe von 1,4 Millionen Flüchtlingen aus – bei einer Gesamtbevölkerung von 5,7 Millionen Menschen. Etwa 200.000 Vertriebene lebten in Notunterkünften wie Schulen oder Nachtclubs. Geschätzte 500.000, darunter zahlreiche syrische Bürgerkriegsflüchtlinge, seien sogar nach Syrien geflohen, um den israelischen Raketen zu entgehen.
Hisbollah ist geschwächt
Israelische Zeitungen hatten geschrieben, die Kampfeinsätze im Libanon können in den nächsten Wochen beendet sein, wenn man die Hisbollah zurückgedrängt hätte. Aus Sicht von Mustafa ist die Bodenoffensive jedoch komplett gescheitert. Innerhalb von vier Wochen seien 900 Soldat*innen verletzt worden und man gehe von 77 Gefallenen aus. „Die Terrororganisation ist durch den Tod ihres Anführers Hassan Nasrallah und zahlreicher Mitglieder stark geschwächt worden“, weist er auf Erfolge der Armee hin. Diese sollte sich jedoch gesichtswahrend aus dem Gebiet zurückziehen.
Aus der Geschichte lernen
„Schon 1982 ist Israel im Zuge des Libanesischen Bürgerkriegs in den Libanon einmarschiert und hat den Süden 18 Jahre lang besetzt“, erinnerte er. Obwohl sich die Operation gegen militante Palästinenser*innen gerichtet hatte, trug sie zur Gründung der schiitischen Hisbollah bei. Im Jahr 2000 zog sich die israelische Armee schließlich aus den besetzten Gebieten zurück. Doch auch vorher – und zwar 1978 – hatte es Luftschläge und eine begrenzte Bodenoffensive gegen den Libanon gegeben. „Zwischen 1971 und 1978 waren Luftangriffe an der Tagesordnung“, beschrieb er die Situation davor. „Wenn etwas 1978 und 1982 nicht geklappt hat, warum soll das gleiche Konzept dann 2024 funktionieren?“, fragte Mustafa mit Blick auf das Scheitern der militärischen Ansätze.
Waffenstillstand in Gaza
Nach dem Rückzug wolle sich die Armee laut Medienangaben das Recht vorbehalten, sobald sie es als notwendig erachtet, erneut Ziele im Libanon anzugreifen. „Der Libanon ist aber ein souveräner Staat“, beschrieb er das Problem. Wenn man einen tragfähigen Frieden haben wolle, sei es ausschlaggebend, die Situation in Gaza zu lösen. „Als es im November 2023 den Waffenstillstand und den Gefangenenaustausch in Gaza gab, stellte auch die Hisbollah ihren Raketenbeschuss ein“, rief Mustafa in Erinnerung.
Weiterführende Links:
- Medico International (29.10.2024): Ausweitung der Kampfzone. Zum Krieg in Gaza und dem Libanon – https://www.youtube.com/watch?v=Ktlp0tXeTBc
- Die Linke SC-RH (30.6.2024): Waffenexporte außer Kontrolle – https://www.die-linke-schwabach-roth.de/politik/waffenexporte-ausser-kontrolle/
- Forensic Architecture: A a Cartography of Genocide – https://forensic-architecture.org/investigation/a-cartography-of-genocide