Zwischen Völkermord und Staatsräson

03. November 2024  International
Geschrieben von Kreisverband

Indonesische Einheiten der UNIFIL-Mission im Libanon, 2020. Seit dem Krieg Israels gegen die Hisbollah gab es 12 Angriffe der israelischen Streitkräfte gegen die UN-Friedensmission sowie über 2.400 tote Libanes*innen und 52.000 Tote und Vermisste in Gaza (Wikimedia: Frea Kama Juno, CC BY-SA 3.0).

Die Klagen vor internationalen Gerichten gegen Israels Kriegsführung und die Verhältnismäßigkeit der zivilen Todesopfer im Gazastreifen und Libanon waren Thema der Diskussion „Deutsche Außenpolitik in Nahost zwischen Völkerrecht und Staatsräson“. Die Veranstaltung wurde von Medico International organisiert.

Genozid in Gaza?

Aktuell laufe ein streitiges Verfahren Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH), bei dem Israel ein Genozid im Gazastreifen vorgeworfen werde, erklärte Kai Ambos. Ergänzend dazu klage Nicaragua gegen Deutschland, da die Bundesrepublik wieder Kriegswaffen nach Israel liefere. Deshalb laute der Vorwurf des mittelamerikanischen Staates gegenüber Deutschland auf Beihilfe zum behaupteten Genozid. „In zwei oder drei Jahren ist mit einer Entscheidung zu rechnen“, machte der Richter die zu erwartende Zeitdauer deutlich.

Rechtswidrige Besatzung

Doch der Sachverhalt sei kein neuer. „Schon 2004 stellte ein Gutachten des Gerichtshofs fest, dass die Mauer, die Israelis und Palästinenser*innen trennt, gegen das Völkerrecht verstößt“, rief er in Erinnerung. 2024 schließlich wurde die Besatzung an sich als rechtswidrig bezeichnet. Gründe waren die Besiedelung durch Israelis, die Ausbeutung der dortigen Ressourcen sowie die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser*innen. Deshalb werde der sofortige Abzug israelischer Truppen und der Abbruch jeglicher Zusammenarbeit von Drittstaaten mit der Besatzungsmacht gefordert. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Karim Khan, hat Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant sowie drei (mittlerweile getöteten) Hamas-Funktionäre beantragt. Doch erwirkte man im Fall Putins einen Haftbefehl innerhalb weniger Wochen, dauert das Verfahren gegen die israelischen Politiker schon über fünf Monate.

Keine Verhältnismäßigkeit

„Das Selbstverteidigungsrecht eines Staates unterliegt der Verhältnismäßigkeit“, betonte der Jurist. So dürfe ein Angriff zurückgeschlagen und auch das Territorium des Angreifers attackiert werden. Dabei dürften jedoch keine zivilen Ziele angegriffen, sondern Vorsorgemaßnahmen für Zivilist*innen ergriffen werden. Bei jedem einzelnen Angriff müsste man diese Sachverhalte mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit gegeneinander abwägen. „Wird ein Krankenhaus als militärischer Stützpunkt genutzt, darf es gemäß des Rechts in einem bewaffneten Konflikt angegriffen werden“, erläuterte Ambos. Doch sagten mittlerweile selbst deutsche Völkerrechtler*innen, dass die israelischen Streitkräfte jedes Maß der Verhältnismäßigkeit verloren hätten. „Bei 40.000 + x toten und 90.000 + x verletzten Palästinenser*innen gegenüber 1.200 toten Israelis, 3.000 Verletzten und 250 Geiseln ist eine ,Unwucht‘ da“, hielt der Professor der Universität Göttingen fest.

Sanktionen gegen Politiker*innen

„Drittstaaten müssen auf die Beendigung des Unrechtszustands der Besatzung hinwirken“, zog Muriel Asseburg ihre Schlüsse aus dem IGH-Gutachten. Die Bundesregierung solle demzufolge untersuchen, welche Beziehungen zu Israel die Besatzung festigen und solche zu beenden. Statt nur die Siedlungen und die Besatzungen als illegal zu sehen, sollte man sich vielmehr für einen EU-weiten Importstopp von Siedlungsprodukten stark machen. „Auch israelische Politiker*innen, die das Siedlungsprojekt vorantreiben, sollten sanktioniert werden“, schlug die Nahost-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik vor. Die Einschätzung des Regierungssprechers Steffen Hebestreit, die Klage vor dem IGH wegen Völkermordes entbehre jeglicher Grundlage, stoße vor allem im Globalen Süden auf Kritik.

Recht oder eigene Regeln?

In Südafrika oder Brasilien setze man sich für eine rechtsgeleitete Weltordnung mittels solcher UN-Institutionen ein. Der Vorstoß der Bundesregierung erwecke in diesen Ländern jedoch den Eindruck die USA und ihre Verbündeten wollten eine regelgeleitete Weltordnung etablieren, bei der nur sie die Regeln bestimmten. Kritisch sah Asseburg auch die „Staatsräson“ als historische Verantwortung. Dieser beinhalte sowohl die Verantwortung Deutschlands für Jüd*innen in der ganzen Welt, besonders aber in der Bundesrepublik und Israel sowie das Eintreten für Menschenrechte und das Völkerrecht.

Rechte für alle nötig

Doch wurden mit der Zeit die Menschenrechte der Verantwortung gegenüber allen Jüd*innen untergeordnet, spricht sie ein Spannungsfeld an. „Das wurde schließlich allein auf Israel reduziert, wobei man auf die Konfliktanalyse und Sicherheitsdoktrin des Staates zurückgriff“, kritisierte sie. Doch müsse man die Sicherheit der Israelis und die der Palästinenser*innen zusammen denken. „Es braucht einen Ausgleich, der allen in der Region Rechte gewährt“, forderte sie.

Angriffe auf UN-Truppen

„Jeder dritte Satz der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock lautet, man müsse das Völkerrecht einhalten“, sagte die ehemalige Bundesministerin der Justiz Herta Däubler-Gmelin (SPD) über die Grünen-Politikerin. Doch danach passiere – nichts. Im Gegensatz dazu habe der UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk die israelischen Angriffe auf die UNIFIL-Beobachter*innen-Mission im Libanon als völkerrechtswidrig verurteilt. „Ebenso müsste man gegen die israelischen Attacken auf Hilfsorganisationen vorgehen“, forderte sie. Nichtsdestotrotz plädierte sie für Differenzierung. „Man darf die Politik Netanjahus nicht mit Israel oder der israelischen Bevölkerung gleichsetzen“, mahnte sie.

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