
Die Pflege von Angehörigen ist kaum mehr bezahlbar und muss deshalb in der eigenen Familie erfolgen. Das führt zur massiven Belastung von Frauen, die diese Care-Arbeit unentgeltlich leisten. Die Diskussion „Vergesellschaftung von Sorgearbeit“ beleuchtete die Situation der Betroffenen und blickte nach Österreich, wo pflegende Angehörige für ihre Arbeit vom Bundesland bezahlt werden. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Pflege als Armutsrisiko
In Deutschland werden über vier Millionen Menschen von ihren Angehörigen gepflegt, wobei rund 80 Prozent der Pflege in Privathaushalten stattfindet. Die Hauptlast dieses „familienbasierten Pflegesystems“ leisten zu 70 Prozent Frauen, die sich um ihren Partner oder die (Schwieger-)Eltern kümmern. Da der Großteil dafür den eigentlichen Vollzeitberuf aufgeben muss, bedeutet Pflege für sie jedoch automatisch auch ein Armutsrisiko.
Großflächige Privatisierung
Bis ins 20. Jahrhundert hinein habe Pflege vor allem im kirchlich geprägten Diakonissenbereich oder dem bürgerlichen Haushalt stattgefunden, erläuterte Sonja Kemnitz, so dass der Beruf zur Pflegefachkraft erst in den 1960er Jahren anerkannt wurde. „1995 kam es mit der Pflegeversicherung zu einem gravierenden Bruch in der kommunalen Versorgung“, kritisierte sie. Denn dadurch wurden private Leistungsanbieter*innen kommunalen und gemeinnützig organisierten Anbieter*innen gleichgestellt, was eine gewaltige Privatisierungswelle im Pflegebereich zur Folge hatte.
Das billigste Angebot gewinnt
Von den damaligen Investitionen profitierten jedoch in hohem Maße private Investor*innen. So gab es kaum Gelder für den kommunalen Sektor. „Im stationären Bereich sind etwa 50 Prozent, in der Ambulanz sogar 60 Prozent privatisiert worden“, schilderte Kemnitz, die Mitglied im Landespflegeausschuss ist, die Konsequenzen. Und bei Ausschreibungen für Pflegeprojekte erhielten immer die Geringstbietenden den Zuschlag. Gleichzeitig hätten sich die Bundesländer in fast allen Bereichen bei der Finanzierung zurückgezogen.
Vollzeitjob ohne Bezahlung
„So werden vor allem die Familien finanziell belastet“, kritisierte sie. In Nordrhein-Westfalen lägen die Kosten für einen Heimplatz beispielsweise durchschnittlich bei 3.000 Euro im Monat. Dies führe dazu, dass ein Großteil der so unbezahlbar gewordenen Pflege in die eigene Familie verlagert werden müsse. Dabei seien viele der pflegenden Angehörigen selbst weit über 65 Jahre alt. „Wir sind Manager*innen, Betreuer*innen und Pflegekraft in einem – und das ohne Bezahlung“, skizzierte Kemnitz, die selbst ihren Mann pflegt, den Alltag. So müssten Ärzt*innen-Termine organisiert, der Transport in die Praxis bewerkstelligt sowie Angehörige dorthin begleitet werden. Gleichzeitig erfolge auch die Grundpflege – etwa Körperhygiene, Essen und Medikamentenverabreichung – durch die Angehörigen.
Aufgaben für Pflegefachkräfte
Aus ihrer Sicht seien Sorgezentren die einzige Alternative gegen diese Aufgabendelegation in die Familie. „Die Belastung unter den Angehörigen ist so groß, dass keine Zeit mehr zu gegenseitiger Beratung und Austausch bleibt“, mahnte sie. Doch dürfe die Arbeit professionell ausgebildeter Pflegefachkräfte nicht von angelernten und bezahlten Angehörigen übernommen werden, kritisierte sie ein österreichisches Pilotprojekt. Da Pflege im Alter – wie Kindererziehung oder Unterstützung im Krankheitsfalle – ein natürlicher Abschnitt im menschlichen Leben sei, müsse die Finanzierung der Fachkräfte auch durch Steuern der Allgemeinheit erfolgen, forderte Kemnitz.
Das Pflege-Projekt in Österreich
Im österreichischen Burgenland werden pflegende Angehörige seit 2019 im Rahmen eines Pilot-Modells vom Bundesland angestellt, erläuterte Patrick Schönherr das Projekt im Nachbarland. Hatte die SPÖ es dort initiiert, führte die KPÖ das System 2024 auch in Graz ein. Momentan seien im Burgenland 250 Personen angestellt, erhielten für ihre Arbeit also einen regulären Lohn, seien sozialversichert und zahlten in die Rentenkasse ein. „Der Lohn setzt sich aus dem Pflegegeld, der Pension der gepflegten Person sowie Zuschüssen des Landes zusammen“, erläuterte der Soziologe. Das Modell orientiere sich an den Pflegegraden (1-7), wobei der Grad 3 einer 20-Stunden-Woche und 1204 Euro netto entsprächen. Bei Stufe 4 seien es 30 Stunden und 1638 Euro. Ebenfalls bestehe ein Anrecht auf einen Grundkurs zu Pflege, fünf Wochen Urlaub sowie in dieser Zeit auch Anspruch auf Ersatzbetreuung.
Reformmodell im Kapitalismus
„Die Pflegekonditionen konnten so im Ansatz verbessert werden“, fasste der Wissenschaftler der Universität Jena seine Ergebnisse zusammen. So hätten die Angehörigen erklärt, dass sich ihre Situation – im Vergleich zur vorherigen unbezahlten Pflegearbeit – verbessert hätte. Gleichzeitig entsprächen die Vertragsbedingungen nicht dem hohen Arbeitsaufwand, der für die Pflege eines Menschen nötig sei. „Nach den 20 bezahlten Stunden wird die Pflege darüber hinaus als Privatperson unentgeltlich übernommen“, skizzierte er das Problem. Auch sei der Urlaubsanspruch wegen des Mangels an Ersatzpersonal nicht umsetzbar. Auch müssten Angehörige von ihrem Lohn auch noch die notwendigen Medikamente kaufen – wobei dieser mit 2.033 Euro für 40 Stunden Pflege weit unter dem österreichischen Durchschnitt von 2.500 Euro liege. „Kann solch ein Reformmodell innerhalb einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft grundlegend etwas verändern?“, fragte Schönherr abschließend.
Weiterführende Links:
- RLS (19.12.2024): Vergesellschaftung von Sorgearbeit: Wie können Care-Praxen in der Altenpflege aussehen? – https://www.youtube.com/watch?v=RpUAJ37WdKQ
- Die Linke SC-RH (2.9.2024): Armutszeugnis. Rendite statt medizinischer Grundversorgung – https://www.die-linke-schwabach-roth.de/politik/armutszeugnis-rendite-statt-medizinischer-grundversorgung/
- Die Linke SC-RH (27.4.2022): Vergesellschaftung. Gesundheit und Pflege – https://www.die-linke-schwabach-roth.de/gesellschaft/vergesellschaftung-gesundheit-und-pflege/