taz: Antikurdische Politik in Deutschland

10. August 2024  Politik
Geschrieben von Kreisverband

An der Außenwand des Arbeiterjugendzentrums in Bielefeld befindet sich ein Graffiti, das Halim Dener darstellen soll. (Hakanneu, CC BY-SA 4.0)

Staatliche Repressionen gegen die kurdische Freiheitsbewegung in der Bundesrepublik war das Thema des taz-Talk. Dabei stellten Kerem Schamberger und Alexander Glasner-Hummel ihr Buch „Geflohen. Verboten. Ausgeschlossen“ vor.

Volk ohne Staat

Mit 35 Millionen Menschen sind Kurd*innen das größte staatenlose Volk der Welt. Ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet liegt in Teilen der Türkei, des Iraks, Irans und Syriens, in denen sie seit Jahrhunderten unterdrückt werden. Geschätzt leben 1,3 Millionen von ihnen in der Bundesrepublik. Zwar versprachen ihnen die Alliierten nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches einen eigenen Staat, doch war bei den Verhandlungen von Lausanne 1923 zwischen Großbritannien, Frankreich und anderen mit der Türkei keine kurdische Delegation an den Gesprächen beteiligt.

Türkischer Nationalismus

Doch setzten vor allem der türkische und syrisch-baathistische Staat auf ein homogenes Nationalitätenverständnis. „Mustafa Kemal Atatürk propagierte den Spruch ,Ein Staat, eine Nation, ein Volk, eine Sprache‘“, erläuterte Kerem Schamberger. Alle, die davon abwichen, etwa assyrische, armenische, êzîdische, griechische oder kurdische Menschen, wurden assimiliert, vertrieben oder ermordet. Zahlreiche Kurd*innen, die ihre Sprache und Kultur beibehalten wollten, flohen deshalb in die Bundesrepublik. Die Unterdrückung hält an, so kamen alleine 2023 gut 52.000 Kurd*innen nach Deutschland.

Föderalismus als Chance?

„Die Anerkennung verschiedener Identitäten und damit einhergehender föderaler oder regionalisierender Reformen würde einen Machtverlust für die zentralistische Regierung in Ankara bedeuten“, erklärte der Kommunikationswissenschaftler. So setze die Staatsregierung die jeweiligen Provinzgouverneure ein, statt dass die Vergabe der Ämter wie bei deutschen Ministerpräsident*innen durch eine Wahl entschieden würden. Trotz politischer Gegensätze sei sich die kemalistische Opposition stets mit Recep Erdoğans AKP oder der faschistischen Grauen-Wölfe-Partei MHP einig, wenn es um Kriegseinsätze ins kurdische Nordsyrien oder den -irak ging, stellte er fest.

Freiheitskampf oder Terrorismus?

Nach dem Militärputsch von 1980 sei in der Türkei das friedliche Eintreten für die Rechte der kurdischen Minderheit nicht mehr möglich gewesen, sagte der Journalist Alexander Glasner-Hummel. Im Zuge dessen kam es zu einem Bürgerkrieg zwischen der Armee und der Arbeiter*innenpartei Kurdistans (PKK) unter Abdullah Öcalan. Jedoch sei die Frage nach der „Terrororganisation PKK“ eine politische Entscheidung. „Der inhaftierte südafrikanische Anti-Apartheid-Kämpfer Nelson Mandela ist von den Vereinigten Staaten jahrelang als ,Terrorist‘ bezeichnet worden“, veranschaulichte der Soziologe diese Einschätzung an einem Beispiel.

„Terror“ als Narrativ

Ab 1986 etablierte sich auch in der Bundesrepublik die systematische Repression gegen Kurd*innen. So kam es zu Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. Im „Düsseldorfer Kurdenprozess“ wurden zahlreiche Personen vor Gericht gestellt, wobei der Vorwurf der Bildung einer „terroristischen Vereinigung innerhalb der PKK“ im Zentrum stand. In den folgenden Jahren setzte sich das Narrativ „Kurde = PKK = Terrorist“ in der Politik immer mehr durch, beschrieb Glasner-Hummel das damalige Klima.

„Ausländergefahr“ für Deutschland

Zugleich war nach den Brandanschlägen von Mölln und Rostock-Lichtenhagen die Stimmung rassistisch aufgeheizt. „Der Generalbundesanwalt Kurt Rebmann bezeichnete den Ausländerextremismus als die Hauptgefahr für die innere Sicherheit Deutschland“, erklärte er. Im November 1993 belegte der Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) die PKK und ihre Unterorganisationen schließlich mit einem Vereinsverbot. In Hannover wurde der 16-jährige Halim Dener, der zuvor in der Türkei gefoltert worden war, am 29. Juni 1994 beim Kleben von PKK-Plakaten von der Polizei erschossen.

Spenden und Bücher

„Zur Geschichte der PKK gehören neben der Blockade deutscher Autobahnen auch Verbrechen und Morde“, blickte Schamberger in die 80er und 90er-Jahre zurück. Doch sei dies, etwa durch Murat Karayılan und seinem Buch „Anatomie eines Krieges“, auch innerhalb der Organisation stark kritisiert worden. In den 2000ern kam es schließlich zu einer grundlegenden ideologischen und organisatorischen Neuausrichtung. Kam es damals beispielsweise in einigen Fällen zu Schutzgelderpressungen, bescheinigte 2024 selbst der deutsche Inlandsgeheimdienst, dass sich die PKK lediglich aus Spenden, Mitgliedsbeiträgen oder dem Verkauf von Büchern finanziere.

Kultur gleich Terror?

Hierin sah der Wissenschaftler jedoch auch eine Gefahr für die kurdische Kultur. Denn 2019 wurde in Deutschland der Mezopotamien Verlag verboten, der die Schriften von Karl Marx, dem US-Sprachwissenschaftler Noam Chomsky oder Öcalan auf Kurdisch vertrieb. „Die Begründung lautete, dies nütze dem organisatorischen Zusammenhalt der PKK“, erklärte Schamberger. Mit dieser Argumentation könne jegliche kulturelle und künstlerische Arbeit zur kurdischen Identität als Unterstützung der PKK ausgelegt werden, gab er zu bedenken. Während Anhänger der Grauen Wölfe auf Wahllisten von SPD oder CDU/CSU kandidieren könnten, würde Kurd*innen die Einbürgerung mit Verweis auf mögliche Sympathien zur PKK verweigert, kritisierte er die politische Ungleichheit.

Polizei und Islamismus

Regelmäßig würden Kurd*innen mit europäischen Haftbefehlen in Frankreich, Italien, den Niederlanden oder auch Schweden festgenommen und in Deutschland wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ vor Gericht gestellt. So könne sich etwa der Besuch des kurdischen Neujahrsfestes Newroz oder eines Fußballturniers auf ein mögliches Strafverfahren auswirken. Problematisch wurde es etwa für den Hersbrucker Agid Aklan. Dieser hatte sich 2019 als Anwärter bei der bayerischen Polizei beworben, wurde jedoch abgelehnt. Der Grund: Zur Zeit der Belagerung von Kobanê durch den IS hatte Aklan auf Facebook das Foto eines kurdischen Kämpfers geteilt, der die Stadt gegen die islamistische Terrororganisation verteidigte. Ebenfalls wurde ihm die Facebook-Freundschaft zu Kerem Schamberger zur Last gelegt.

Deutsches Demokratieproblem

Wenn man die Verbote von Konferenzen, Kontosperrungen, politische Betätigungsverbote oder die Ein- und Ausreisesperren für palästinensische Aktivist*innen in den vergangenen sechs Monaten betrachte, merke man, dass diese Praktiken bereits seit vielen Jahren gegen Kurd*innen angewandt würden. Gleichzeitig erklärten Politiker*innen junge Menschen, die mit Verweis auf die weltweite Klimaerwärmung Autobahnen und Flughäfen blockierten, für „Terrorist*innen“. „Das ist ein deutsches Demokratieproblem“, bilanzierte Schamberger.

Platz für Friedensprozess?

Sein Mitautor Glasner-Hummel forderte ein Abschiebeverbot in die Türkei, da den Menschen dort Folter und endlose Haft drohten. Versammlungen sollten ohne Symbol-Verbote möglich sein und eine Amnestie für politische Gefangene erfolgen. Aktuell sitzen etwa zwölf Kurd*innen in deutschen Gefängnissen. „Wir müssen die inhaftierten Politiker*innen als Dialogpartner*innen gewinnen“, sagte er. Denn so gäbe es eine Chance, dass Deutschland der Ort für einen Friedensprozess zwischen Kurd*innen und Türk*innen werden könne.

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