Zivilgesellschaft: 30 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen

15. Oktober 2022  Geschichte
Geschrieben von Kreisverband

Das Sonnenblumenhaus in der Mecklenburger Allee, 2006 (Urheber: mc005 CC BY-SA 3.0)

Wie gehen die Menschen in Rostock drei Jahrzehnte nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen mit den Ereignissen um? Die Rosa-Luxemburg-Stiftung beschäftigte sich in ihrem Kommunalpolitik-Podcast mit verschiedenen Organisationen der Zivilgesellschaft.

Doppeltes Gedenken

1992 waren Asylsuchende aus Südosteuropa sowie einstige Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam in der Zentralen Aufnahmestelle im „Sonnenblumenhaus“ untergebracht. Ende August versammelte sich mehrere Tage hintereinander ein wütender Mob vor dem Gebäude. Es wurden ausländerfeindliche Parolen gebrüllt, Pyrotechnik abgeschossen und Brandsätze auf das Haus geworfen. Zum 30. Jahrestag veranstaltete einerseits die Stadt Rostock mit dem Bundespräsidenten eine Gedenkfeier. Andererseits ermöglichten verschiedene Gruppen der Zivilgesellschaft Workshops für Schüler*innen oder organisierten Diskussionen mit den Nachkommen der damals betroffenen Menschen.

Erinnerungsarbeit per Smartphone

Christoph Schultz ist beim Verein Soziale Bildung aktiv. Im Dokumentationszentrum „Lichtenhagen im Gedächtnis“ werden kontinuierlich Quellen zu dem Pogrom gesammelt, aufbereitet und öffentlich zugänglich gemacht. Beispiele dafür sind etwa Interviews mit damals attackierten Rom*nja. „Viele Schüler*innen aus Rostock erfahren bei unseren Projekttagen das erste Mal über den Pogrom“, erläuterte Schultz aus seiner Bildungsarbeit. Doch schafften es die jungen Menschen schnell, Bezüge zur Gegenwart herzustellen, wie die rechtsterroristischen Anschläge in Halle oder Hanau. Eine App des Vereins machte es möglich, an sechs Marmorstelen, die als dezentrale Erinnerungsorte dienen, den Ort aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. So werde an dem jeweiligen Ort die Geschichte der Betroffenen oder das Versagen der Polizei thematisiert.

Lichtenhagen führte zum NSU

Tim Bleis gehört LOBBI MV an, einer Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern. Zum einen versuche man, die Selbstorganisation der betroffenen Menschen zu stärken. Andererseits sei man auch mit Lokalpolitiker*innen und der Presse vor Ort im Gespräch, um rechte Gewalt öffentlich zu machen und sie künftig zu verhindern, erklärte er. „Die Ausschreitungen gaben der rechten Szene das Gefühl von Selbstermächtigung, da die Gewalt kaum sanktioniert wurde“, setzte Bleis die Geschehnisse in einen größeren Kontext. Aus dieser Generation von Rechtsextremen entwickelten sich Gruppen, die nach dem Prinzip des „führerlosen Widerstands“ organisiert waren. Die bekannteste war der Nationalsozialistische Untergrund (NSU), der 2004 den kurdischen Jugendlichen Mehmet Turgut im Rostocker Stadtteil Toitenwinkel erschoss.

Straße für Opfer

Seyhmus Atay-Lichtermann, Vorsitzender des Migrant:innenrats Rostock, sprach über die Bemühungen, eine Straße nach dem fünften Mordopfer des NSU zu benennen. Der Rat vertritt Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber der Kommune und berät den Stadtrat bei Anliegen. „Ein 2012 gestellter Antrag wurde zwei Jahre später abgelehnt, weil Mehmet ein ‚Illegaler‘ gewesen sei und ‚nicht zu Deutschland‘ gehöre“, schilderte Atay-Lichtermann einen gescheiterten Versuch. Aktuell liefe eine Petition, welche die Anwohner*innen an der ausgewählten Straße einbeziehe. Anfallende Verwaltungskosten würden vom Migrant:innenrat übernommen werden, versichert dessen Vorsitz. Eine Umbenennung erfordere die Zustimmung von Oberbürgermeister*in und dem jeweiligen Ortsbeirat.

Weiterführende Links:

« zurück