Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen

16. Mai 2022  International
Geschrieben von Kreisverband

Blau-weiß-blaue Flagge der russischen Demokratie-Bewegung, Logo des Netzwerks Friedenskooperative

Alexander Zaslawski arbeitet beim „Netzwerk Friedenskooperative“. Für sein Praktikum schreibt der russische Politikstudent den siebenteiligen Blog „Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen“. Er wuchs in Moskau auf und ging mit 19 Jahren nach Deutschland, wo er aktuell an der Freien Universität Berlin studiert.

Repression und Loyalität

Zaslawski beschreibt eindrücklich die staatlichen Repressionsmaßnahmen in Russland. Wer das Wort „Krieg“ in den Mund nimmt oder über Verbrechen der russischen Armee gegen die ukrainische Zivilbevölkerung spricht, riskiert bis zu 15 Jahren Haft. Alle Medien, die dies taten, wurden geschlossen. Faktisch gilt eine Militärzensur. Laut Reporter ohne Grenzen gibt es seit dem 24. Februar 2022 de facto keine Medienfreiheit mehr. Seit dem Amtsantritt von Präsident Putin wurden mindestens 37 Medienschaffende wegen ihrer Arbeit ermordet. Auf der Rangliste der Pressefreiheit liegt Russland auf Platz 155 (von 180).

In diesem Klima der Angst sind Umfragen demzufolge kritisch zu interpretieren. Denn in der Frage ,,Unterstützen Sie die Militäroperation in der Ukraine?“ schwingt stets die Loyalitätsabfrage „Sind Sie für oder gegen das Vaterland?“ mit. Somit ist die repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“, das in Russland als „ausländischer Agent“ geführt wird, mit Vorsicht zu genießen. Darin gaben 83 Prozent der Russ*innen an, sie unterstützten Putins Arbeit.

Propaganda und Patriotismus

Ein Großteil der Bevölkerung übernahm das von der staatlichen Propaganda verbreitete Schreckensszenario, demzufolge die belagerte Burg Russland von der NATO bedroht werde. Die ziemlich simple Erkenntnis, dass die Handlungen der russischen Armee denen der deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg erschreckend ähnlich sind, wäre ein Realitätsschock und würde für Millionen Russ*innen den Bezugsrahmen sprengen. Plötzlich wäre das eigene Land Täter und kein Opfer. Bei der Beurteilung von Putins Handlungen gibt es ein ausgeprägtes Generationengefälle. Die Älteren erinnern sich an den verlustreichen Einmarsch in Afghanistan oder an die Tschetschenienkriege, sie nehmen den jetzigen Krieg als nichts Außergewöhnliches wahr. Krieg wird in Russland bis heute als legitimes Mittel zur Konfliktlösung gesehen, begünstigt durch eine chauvinistisch-patriotische Erziehung und den Siegeskult.

Internet und Exodus

Ein deutlich kleinerer Teil bezieht seine Nachrichten aus den unabhängigen Internet-Medien. Für viele junge Russ*innen ist das der erste Krieg. Manche sind regelrecht geschockt, dass das eigene Land den Nachbarstaat zerfleischt. Die recht sporadischen Proteste, gegen die die Militärpolizei mit aller Härte vorgeht, wurden maßgeblich von jungen Menschen getragen. Mitte März war von zweihunderttausend aus Russland nach Kriegsbeginn ausgereisten Menschen die Rede. Ganze Berufsgruppen – allen voran Informatiker – verlassen das Land aus Perspektivlosigkeit. Unter den Jungen, von denen sich die Hälfte bereits vor dem Krieg keine Zukunft in Russland vorstellen konnte, ist jetzt der Wille abzuhauen enorm. Russland verliert damit seine klügsten Köpfe.

Russische Demokratie-Bewegung

Eine neue, weiß-blau-weiße Flagge wurde entworfen, da sich die heutige Fahne absolut diskreditiert hat und auch sichtbar sein muss, dass Menschen russischer Herkunft bei den Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine dabei sind. Die Farbauswahl ist eine Anspielung auf die Nowgoroder Republik, einen mittelalterlichen russischen Staat, der als Wiege der russischen Demokratie gilt. Zudem ist die Fahne ähnlich aufgebaut wie die weiß-rot-weiße belarussische Flagge, die von der Opposition ebenso in Anlehnung auf die Vergangenheit und als Gegenentwurf zum sowjetisch angehauchten Staatslogo aufgegriffen wurde. Natürlich wurde die Fahne in Russland zügig verboten. Laut Amnesty International dokumentierte die russische Menschenrechtsorganisation OVDinfo.org zwischen dem 24. Februar und 20. April 15.434 Fälle, in denen Menschen wegen ihres Protests gegen den Krieg festgenommen wurden.

Weiterführende Links:

« zurück