NS-Ärzte vor Gericht: Der Ärzteprozess 1947

05. Februar 2022  Geschichte
Geschrieben von Kreisverband

Der Nürnberger Ärzteprozess, Hauptangeklagter Karl Brand (Wikimedia Commons)

Medizinische Verbrechen im Dritten Reich, die verpasste Chance einer umfassenden Aufarbeitung und das Wiedererstarken der verantwortlichen Eliten in der Bundesrepublik waren Themen bei der Veranstaltung „75 Jahre Nürnberger Ärzteprozess“. Organisiert wurde diese vom Memorium Nürnberger Prozesse, dem VVN-BdA sowie den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW).

„Nürnberger Kodex“

Dass der Ärzteprozess oder der daraus resultierende „Nürnberger Kodex“ keine nennenswerten Auswirkungen auf die Gesellschaft hatte, veranschaulichte Prof. Dr. Maike Rotzoll (Heidelberg) deutlich: Bis zum Arzneimittelgesetz von 1976 waren Medikamentenversuche an Minderjährigen ohne Einverständniserklärung der Erziehungsberechtigten auch in der Bundesrepublik an der Tagesordnung. Ein Umdenken hätte der „Nürnberger Kodex“ liefern sollen, der 1947 ethische Richtlinien für medizinische Menschenversuche festlegte. Er war das Ergebnis des Ärzteprozesses, bei dem 20 Ärzt*innen sowie drei Nicht-Mediziner*innen im Saal 600 vor Gericht standen. Neben Menschenversuchen in Konzentrationslagern wurden ihnen Patient*innenmorde (Aktion T4) sowie die Ermordung zehntausender Tuberkuloseerkrankter aus Polen zur Last gelegt.

Tödliche Experimente

Protokolliert waren Unterdruck- und Unterkühlungsversuche sowie das Trinken von Meerwasser (Dachau), Fleckfieber- und Malariaforschung (Buchenwald), Knochentransplantation (Ravensbrück), Senfgasversuche (Sachsenhausen) sowie Sterilisation und Zwillingsforschung (Auschwitz). Zwischen 15.000 und 18.000 Menschen wurden Opfer dieser Experimente, mindestens 4.500 starben. Bei den Verantwortlichen handelte es sich jedoch keineswegs um medizinische Sadist*innen, die pseudowissenschaftliche Taten vollbrachten. Die gesamte Elite der NS-Psychiater*innen strebte vielmehr die Umwandlung bisheriger „Verwahranstalten“ in Heilstätten an. Die Konsequenz: Galten Patient*innen als nicht „heilbar“, konnten sie vernichtet werden. Rotzolls Fazit: „Nicht einzelne Ärzte, die ganze Psychiatrische Fachgesellschaft hätte angeklagt werden müssen.“

Zwangssterilisation und Hunger-Erlass

Dr. Hans Ludwig Siemen (Erlangen) erläuterte die NS-Euthanasie-Morde. Dabei hätten sich nicht nur die ausführenden Ärzte, sondern auch die Reichsbahn, die karitativen Heime beider Kirchen oder einfache Verwaltungsbeamte zu Mördern gemacht. Dass in der NS-Ideologie „Erbkranke“ „ausgemerzt“ werden müssten, kam damals vielen Psychiatern entgegen. Sie sahen sich als Ärzte des Volkskörpers, welche die ihnen nun gegebene Macht nutzten: Menschen mit unangepasstem Verhalten wurden zwangssterilisiert, Hebammen und Kinderheime meldeten behinderte „Fälle“ ans Gesundheitsamt. Viele der jungen Patient*innen wurden in sogenannte „Kinderfachabteilungen“ überstellt. Siemen veranschaulichte dies am Beispiel eines dreijährigen Mädchen aus Nürnberg, das von den Neuendettelsauer Anstalten in die Heil- und Pflegeanstalt Ansbach überwiesen wurde. Dort wurde es schließlich mit einer Tabletten-Medikamentation ermordet. Starben so in Ansbach 154 Kinder, waren es in ganz Bayern ca. 700. Jüdische, später auch christliche Anstaltsbewohner*innen wurden in der Tötungseinrichtung Hartheim bei Linz vergast. 1942 wurde der „Bayerische Hunger-Erlass“ verfügt: Patient*innen verhungerten in eigens dafür eingerichteten Krankentrakten. Bis 1945 sollten in bayerischen Heil- und Pflegeanstalten 11.000 Patient*innen sterben.

NS-Elite in der Bundesrepublik

Prof. Michael v. Cranach (Kaufbeuren) bilanzierte, dass die Mehrheit der damals praktizierenden Psychiater die NS-Maßnahmen befürwortete. Eine Kontinuität der Täter sah er z.B. in Julius Hallervorden. Der Mediziner wurde 1933 Fördermitglied der SS, untersuchte über 700 Gehirne von ermordeten Kindern, arbeitete in der Bundesrepublik am Max-Plank-Institut und erhielt 1956 das Große Bundesverdienstkreuz. In München ernannten die Amerikaner im Juli 1945 Gerhard Schmidt zum Leiter der Anstalt Eglfing-Haar. Er entließ frühere Täter*innen, stellte junge, unbelastete Ärzte ein und machte die Euthanasie- und Hungermorde der Institution öffentlich. Die in das Morden involvierte NS-Ärzteschaft reichten seitenlange Beschwerden beim Ministerium ein, so dass Schmidt 1946 entlassen wurde. Die neueingesetzten alten Anstaltsdirektoren lehnten 1948 eine Stellungnahme zu den Euthanasieverbrechen ab.

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