Brasilien hat die Wahl

09. Oktober 2022  International
Geschrieben von Kreisverband

Flagge Brasiliens (gemeinfrei)

Eine extrem polarisierte Gesellschaft, die von starker sozialer Ungleichheit, aber auch evangelikalen Freikirchen geprägt ist, sieht in der brasilianischen Präsidentschaftswahl einem wichtigem Ereignis entgegen. So lautete das Fazit der Veranstaltung „ Brasilien vor den Wahlen – Gefährdete Demokratie“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS).

Im ersten Wahlgang (2. Oktober) stimmten 48,43 Prozent der Bevölkerung für den linken Ex-Präsidenten Lula da Silva. Der bisherige rechte Amtsinhaber Jair Bolsonaro erhielt 43,20 Prozent. Da niemand die 50 Prozent-Hürde erreichte, treten beide am 30. Oktober in einer Stichwahl gegeneinander an.

Militär und Kapital

„Evangelikale, Unternehmer, Agrarindustrie und das Militär stehen auf der Seite Bolsonaros“, skizzierte Jorge Pereira vom Büro der RLS in São Paulo die Situation in Brasilien. Darüber hinaus hätten viele Mitglieder der kasernierten Polizei, der Bundespolizei oder verschiedener Milizen große Sympathien für die Agenda des aktuellen Präsidenten. Abholzung des Regenwaldes, um daraus landwirtschaftliche Flächen zu gewinnen, 600.000 Tote während der Corona-Pandemie sowie Privatisierungspläne des Gesundheits-, Bildungs- und Rentensystems, nannte Pereira einige Stichpunkte.

Ungleichheit und Echokammern

„Brasilien ist die zwölftstärkste Volkswirtschaft der Welt, doch die Macht lag nur bei einigen wenigen“, wies er auf die politische und ökonomische Ungleichheit hin. Arbeiter*innen, Indigene und Frauen seien von den neoliberalen Plänen Bolsonaros besonders betroffen. Dieser Ungerechtigkeit stelle sich der frühere Präsident Brasiliens, Lula da Silva, entgegen, der schon während seiner Regierungszeit von 2003 bis 2011 versuchte, den Armen und Unterprivilegierten Gehör zu verschaffen. Beide politische Lager befänden sich jedoch jeweils in einer Blase, in der die eigene Weltsicht beständig reproduziert werde, erläuterte Pereira die momentane Spaltung der Gesellschaft.

Gewalt und Manipulationsvorwürfe

Die Investigativjournalistin Andrea Dip führte aus, wie sich diese Gegensätze im politischen Wahlkampf äußerten. „Linke Aktivist*innen werden in ihren Häusern überfallen und zusammengeschlagen, manche Unterstützer*innen Lulas sogar ermordet“, sagte sie. Obwohl die Militärdiktatur (1964-1988) schon einige Jahrzehnte zurückläge, sei in der Gesellschaft ein latenter Faschismus präsent, der auch nach einer möglichen Wahlniederlage Bosonaros nicht schlagartig verschwinde. Schon jetzt bezweifele Bolsonaro die Funktionsfähigkeit des elektronischen Stimmauszählungsverfahren und fordere das Militär dazu auf, die Wahlauszählungen zu überwachen, gab Dip zu bedenken.

Fundamentale Christen und Trans-Menschen

Doch nicht nur viele Angehörige der Streitkräfte stellten sich hinter die Politik des einstigen Fallschirmjägers. Über 20 Prozent der Bevölkerung gehörten einer der zahlreichen evangelikalen Pfingstkirchen an, deren Pastoren auch dezidiert für den Präsidentschaftskandidaten warben. Oft hätten sie eigene Fernsehersender, in denen die Prediger ihre Meinung verträten. „Positionen gegen Gender und Schwangerschaftsabbrüche sind Themen, mit denen in den konservativen Milieus geworben wird“, erläuterte Dip. Bolsonaro selbst zeige sich auch häufig bei Gottesdienstbesuchen oder religiösen Prozessionen. Wie sich solche gesellschaftliche Grundhaltungen auf Minderheiten auswirkten, erläuterte sie ebenfalls. „In Brasilien werden weltweit die meisten Trans-Menschen ermordet“, sagte sie.

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