Putin und der großrussische Nationalismus

21. Mai 2022  International
Geschrieben von Kreisverband

Quelle: Twitter, VVN-BdA

Eine Abkehr vom sowjetischen Erbe und eine zunehmende Radikalisierung im Inneren bescheinigten mehrere Expert*innen der russischen Regierung. Die Veranstaltungsreihe „Nationalismus und Geschichtsrevisionismus“ der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*innen (VVN-BdA) hatte „Großrussischen Nationalismus und Geschichte als Kriegslegitimation“ zum Thema.

Nationale Gedenktage

Ute Weinmann, Autorin des Buches „Opposition gegen das System Putin“, verdeutlichte die putinsche Abkehr von der Sowjetunion am „Tag der Revolution“ (4. Nov.), der an die erfolgreiche Oktoberrevolution der Bolschewiki erinnerte. 2005 wurde der Feiertag abgeschafft und durch den national-religiösen „Gottesmutter von Kasan Ikone“-Tag (bzw. Einheit des Volkes) ersetzt. Dieser gedenkt der Rückeroberung Moskaus im Polnisch-Russischen Krieg (7. Nov. 1612). „2005 zogen zum ersten Mal russische Faschisten durch Moskaus Straßen“, erläuterte Weinmann den neuen Feiertag. Der Kreml integrierte extremistische Strömungen, sofern er sie nicht als regierungsfeindlich zerschlug. Eine wissenschaftlich-gesellschaftskritische Aufarbeitung des Faschismusbegriffs fand in Russland nicht statt, da eine Selbstreflektion seitens der Herrschenden nicht erwünscht war.

Antifaschismus oder Nationalismus?

Der Historiker Fabian Wisotzky veranschaulichte den Wandel des kapitalistischen Russlands am Beispiel des 9. Mai. So verdränge der 1769 von Zarin Katharina der Großen gestiftete Georgsorden (schwarz-orangenes St. Georgs-Band) am „Tag des Sieges“ mehr und mehr die sowjetischen Fahnen. Einzig Stalin werde als Garant imperialer Stärke hervorgehoben, während Revolutionsführer Lenin wegen seiner progressiven Einstellung zur Nationalitätenfrage als Totengräber der russischen Machtstellung gälte, erläuterte Wisotzky die russische Geschichtsschreibung. „Wird bei der Parade am Roten Platz grenzüberschreitender Antifaschismus oder lediglich nationale Stärke gefeiert?“, hinterfragte er den einst völkerverbindenden Feiertag. Nationalismus sei auch bei der Kommunistischen Partei (KPRF) erkennbar, da diese die Anerkennung der sog. „Volksrepubliken“ Donez und Lugansk sowie eine Entnazifizierung der Ukraine fordere.

Russland ohne Sozialismus

Publizist Prof. Dr. Micha Brumlik ging auf den Stichwortgeber des großrussischen „Eurasien“-Konzepts, Alexander Dugin, ein. Der ehemalige Vorsitzende der Nationalbolschewistischen Partei Russlands sei einer der führenden Vordenker der Neuen Rechten in Deutschland. Im Interview mit Compact-Chef Jürgen Elsässer legte er 2013 dar, dass weder Sozialismus noch westlicher Liberalismus ein tragfähiges Konzept für die russische Gesellschaft darstellten. Statt individueller Menschenrechte brauche es eine neue imperiale Weltordnung. Diese orientiere sich an Eurasien unter russischer Führung, der Volksrepublik China und den USA. Brumlik sah das heutige Russland in einer Linie mit Italien (Mussolini), Spanien (Franco) und Portugal (Salazar). Ebenso wie damals seien reaktionäre Gesellschaftsentwürfe vorherrschend, bürgerliche Freiheiten eingeschränkt und Grundlage all dessen das kapitalistische Wirtschaftssystem.

Krieg und Repression

Der Politologe Dr. Felix Jaitner zeichnete den autoritären Regierungsstil seit 1991 nach. Die Reformen Jelzins hätten zu größeren wirtschaftlichen Verlusten geführt als der Zweite Weltkrieg, erläuterte er die umfassenden Privatisierungsmaßnahmen. Das gegen ihn rebellierende Parlament ließ der damalige Präsident von regierungstreuen Truppen beschießen. Auch im Ersten Tschetschenienkrieg (1994-96) setzte das russische Staatsoberhaupt auf Gewalt. Sein Nachfolger Putin profitierte vom hohen Ölpreis, der vor allem einer reichen Oligarchenschicht zugute kam. Die autoritäre Konsolidierung erfolgte durch den Zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009) nach außen sowie die Unterordnung der Oligarchen im Inneren. Auf Massenproteste gegen die Parlamentswahlen von 2011 reagierte der Staat mit Repression. Jüngst wurde die Menschenrechtsorganisation Memorial aufgelöst (2021), die „Stiftung für Korruptionsbekämpfung“ von Alexei Nawalny verboten (2021) sowie positive Äußerungen zu Homosexualität unter Strafe gestellt (2013).

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