Armut sichtbar machen

24. Juni 2022  Politik
Geschrieben von Kreisverband

Kritik an der Ampel-Regierung, zu wenig gegen Armut in Deutschland zu tun und der Versuch, von Armut Betroffene wieder „sprachfähig“ und „sichtbar“ zu machen. Darum ging es bei der Diskussion „13,4 Millionen – unsichtbare Armut“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Inflation trifft Arme

Gwendolyn Stilling vom Paritätischen Wohlfahrtsverband erläuterte, dass die relative Armut (60 Prozent im Vergleich zur Gesamtgesellschaft) seit Jahren kontinuierlich zunehme. „Jeder sechste Mensch in Deutschland ist von Armut betroffen“, sagte sie. Vor allem Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Erwerbslose lebten häufig in Armut. Diese seien auch besonders von der Inflation getroffen. „Wir haben die Transferleistungen für Hartz IV schon am 1. Januar 2022 als nicht bedarfsdeckend kritisiert“, wies Stilling auf die Arbeit des Verbandes hin. Der Ukraine-Krieg habe jedoch zu einer zusätzlichen Teuerung geführt. Kostete eine Flasche Speiseöl im Januar 99 Cent, müsste man heute 5,99 Euro zahlen – bei einem Regelsatz für Lebensmittel von 150 Euro / Monat.

Armut bedeutet Ausschluss

„Die Ampel-Regierung schüttet mit dem Entlastungspaket 23 Milliarden per Gießkannen-Prinzip an alle Haushalte“, erklärte sie. Davon seien jedoch nur 2 Milliarden für Arme vorgesehen. Stilling fand für den Ausschluss aus der Gesellschaft aufgrund von Armut zahlreiche Beispiele. „Für einen der 13,4 Millionen armen Menschen ist der Kaffee und das Brötchen in der Bäckerei unbezahlbar“, verdeutlichte sie die täglichen Alltagssorgen. Häufig müssten sich Eltern zwischen dem kleinen Geschenk für das Kind oder nötigen Medikamenten entscheiden. Auch eine individuelle Wohnungsgestaltung sei unmöglich: Weder gäbe es Geld für die Wandfarben, noch einen unterstützenden Freundeskreis zur gemeinsamen Mal-Aktion. „Armut bedeutet Stress“, fasste sie deren gesundheitsschädliche Wirkung, abgesehen von Mangelernährung aufgrund teurer, gesunder Nahrungsmittel, zusammen.

Umverteilung nötig

Der Paritätische hatte eine Online-Aktionskonferenz organisiert, bei der 500 von Armut Betroffene über ihre Lebenssituation sprechen konnten. „Ständig wiederkehrendes Thema war die alltägliche Demütigung bei Behördengängen“, sprach sie ein Hauptthema an. Die menschenverachtenden und massentauglichen Verwaltungsstrukturen müssten verändert werden, forderte Stilling. Sie hege jedoch Zweifel, ob dies im Fokus der aktuellen Ampel-Regierung läge. Das Mindeste sei jedoch die Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes auf 668 Euro pro Monat. Politisches Ziel müsse eine sanktionsfreie Grundsicherung sowie eine gesamtgesellschaftliche Umverteilung sein, um Armut effektiv bekämpfen zu können.

Stumm und unsichtbar

Markus Ostermair ist Autor des Buches „Der Sandler“ (bayerischer Begriff für Obdachlose) und beschäftigte sich viel mit dieser sichtbarsten Form der Armut. „Unsere Leistungsgesellschaft individualisiert die Schuld für Armut und stellt Betroffene oft als faul dar“, beschrieb er den öffentlichen Diskurs. Aus dieser Scham heraus versuchten arme Menschen, „unsichtbar“ für die Gesellschaft zu werden, sie „verstummten“. Die Vereinsamung und Ausgrenzung führe dazu, dass sie sich nicht mehr in Organisationen oder Parteien engagierten, würden in der medialen Berichterstattung schließlich „übersehen“. Eine positive Gegenbewegung bildete der Twitter-Hashtag #ichbinarmutsbetroffen, unter dem von Armut Betroffene über ihre prekäre Lebenssituation berichteten.

Steuerfahnung statt „Sozialhilfebetrug“

Dem schambehafteten Schweigen der Armen setzte Ostermair eine gelenkte PR-Strategie der Reichen entgegen. „Obwohl man über Reichtum und persönliche Kontostände nicht spricht, verbreiten Wohlhabende gezielt den Mythos von Leistung und selbst erarbeitetem Reichtum“, sagte er. Im Behördenapparat wurden rund 40 Millionen Arbeitsstunden zur Aufdeckung zu viel überwiesener Sozialleistungen oder zur Strafverfolgung sog. Schwarzfahrens aufgewendet – Delikte mit einem Gesamtschaden von ca. 4 Millionen Euro. Würde man mit der gleichen Energie und Hartnäckigkeit der Steuerhinterziehung krimineller Unternehmen entgegentreten, ergäben sich dem Staat Mehreinnahmen von geschätzt 80 Milliarden pro Jahr.

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