Kapitalismus und Zeitdiebstahl

06. Januar 2023  Politik
Geschrieben von Kreisverband

Shahram Khosravi und Friederike Beier (Rosa-Luxemburg-Stiftung CC BY 3.0)

Mehrfachbelastungen von Frauen durch unbezahlte Sorgearbeit, die kapitalistische Durchdringung aller Lebensbereiche und der Diebstahl von Lebenschancen waren Thema bei der 17. ManyPod-Folge „Gegen die Zeit!“. Der Podcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung beschäftigte sich erneut mit migrationspolitischen Themen.

Selige Hausarbeit?

Weihnachten als Zeit des Festessen-Kochens, Bekannte-Einladens und Geschenke-Einpackens sei vor allem für Frauen ein wahrer Stresstest, erläuterte Friederike Beier. „Viele Prozesse finden gleichzeitig statt“, verwies die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Gender und Diversity der FU Berlin auf Kochen und das Kümmern um die Kinder, die oftmals zur selben Zeit unter einen Hut gebracht werden müssten. Dabei stünde häufig die soziale Beziehung im Fokus, nicht die Produktivität wie bei der Fließbandarbeit.

Lohndumping für Migrant*innen?

Die Entlohnung für Hausarbeit – eine zentrale Forderung der Frauenbewegung in den 80er Jahren – habe Beier zufolge jedoch auch Nachteile. „Die Verrechnung der Tätigkeit in Geldwert kann dazu führen, dass die Arbeit an schlechter bezahlte Migrant*innen ausgelagert wird“, warnte sie. Die Wissenschaftlerin kritisierte ebenfalls die Verwendung von Mikrokrediten in Ländern des globalen Südens. Die dadurch geschaffenen lokalen Absatzmärkte ermöglichten neben der landwirtschaftlichen Selbstversorgung (Subsistenzwirtschaft) auch kapitalistische Lohnarbeit. Dieser Ausbreitung kapitalistischer Wirtschaftspraktiken (vgl. Luxemburg, Rosa: Die Akkumulation des Kapitals, 1913) stand Beier ablehnend gegenüber.

Warten statt leben

Die Ungleichheit an Lebenschancen, die durch die freie Verfügung von Zeit oder ihrem Gegenteil – dem Warten – entstehe, war das Anliegen von Shahram Khosravi. Der aus dem Iran stammende Professor für Anthropologie an der Universität Stockholm erläuterte, dass Menschen ihre Zeit nutzen wollten, um zur Schule gehen zu können, eine Ausbildung zu machen oder eine Familie zu gründen. Doch viele könnten diese Lebensplanung nicht leisten, da sie von Gesetzes her in Flüchtlingslager gesperrt würden. „In einer Gesellschaft, in der Erfolg der zentrale Gradmesser ist, führt die Verdammung zur Untätigkeit zu einem Gefühl von Nutz- und Wertlosigkeit“, kritisierte Khosravi das staatliche Vorgehen.

Die ungerechte Gesellschaft

Eine weitere Ungleichheit hatte der Professor in Zeiten der Pandemie ausgemacht. „Während Busfahrer*innen oder das Pflegepersonal ganz normal zur Arbeit gehen mussten, konnten sich Menschen mit Bürotätigkeiten ins sichere Home-Office zurückziehen“, wies er auf die unterschiedliche Gefährdungslage verschiedener Berufsgruppen hin. (vgl. Danger Dan im ZEIT-Interview, 6.5.2021: „Dass es so was wie eine Klassengesellschaft gibt, sieht man ja auch daran, dass arme Leute mit dem Fahrrad anderen Leuten ihr Essen nach Hause bringen – und wir tun so, als sei das ein Lockdown.“)

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