Vergessene NS-Opfergruppen: „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“

15. Februar 2022  Geschichte
Geschrieben von Kreisverband

Prof. Dr. Frank Nonnenmacher bei seinem Vortrag in Fürth

Über die vergessene Opfergruppe der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ im Nationalsozialismus berichtete Prof. Dr. Frank Nonnenmacher am Beispiel seines Onkels im Jüdischen Museum Fürth. Die Veranstaltung entstand in Zusammenarbeit mit dem Fürther Bündnis gegen Rechtsextremismus und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*innen (VVN-BdA).

„Kriminalität“ – eine Klassenfrage?

Sein Onkel Ernst wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, erklärte der emeritierte Professor der Goethe-Universität Frankfurt. Als Sohn einer alleinerziehenden, ungelernten Wäschebüglerin verließ er die siebte Klasse, um in Markthallen zu arbeiten oder Heizmaterial für die Familie zu „organisieren“. In einem „Rettungshaus für gefährdete Kinder“ im Remstal lernte er Korbflechten, als jugendlicher Wanderarbeiter verstieß er des öfteren gegen polizeiliche Meldeauflagen. Der Einbruch in eine Bäckerei, wo er ein belegtes Brötchen aß, wird ihm vor Gericht als „vollendeter Diebstahl“ ausgelegt. Seine Beziehung zur Gelegenheitsprostituierten Maria Wiedemann definiert die Obrigkeit in den Akten als „Zuhälterei“. Sich nicht bei der Behörde melden, Mundraub und das Zusammenleben mit einer Prostituierten – drei „schwerwiegende“ Straftaten, die schwerwiegende Folgen haben sollten…

Flossenbürg und Sachsenhausen

Nachdem Ernst 1941 nach einer zweijährigen Haft entlassen wurde, wollte er in Stuttgart bei einem örtlichen Bauunternehmer arbeiten. Die Strafe für seine Delikte hätte er im Gefängnis abgesessen, die Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz und die notwendige Meldung bei der Polizei seien ein Weg ins „richtige Leben“, dachte er. Doch sein Wanderleben, das Brötchen und seine Beziehung sollten ihm zum Fallstrick werden. „Im Rahmen der ‚Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung‘ wurde Ernst seiner Vorstrafen wegen ins Konzentrationslager Flossenbürg überstellt“, schilderte Nonnenmacher die Maßnahmen der Polizei. Als „Asozialer“ erhielt er zunächst einen schwarzen Winkel am Jackenärmel. Wenig später wurde er „Berufsverbrecher“ mit einem grünen Dreieck gekennzeichnet und kam wegen des Diebstahls von Spirituosen in das berüchtigte Steinbruch-Kommando. Durch einen glücklichen Zufall wurde Ernst als Korbflechter nach Sachsenhausen verlegt, wo er die Befreiung erlebte.

„Zurecht im KZ…“

In der jungen Bundesrepublik wurde ihm auf dem Landratsamt gesagt, als Häftling mit dem „grünen Winkel“ sei er zurecht im KZ gewesen. Auch in der DDR erhielt er keine Entschädigung. Otto Auerswald, ein Kommunist, den er in Sachsenhausen kennengelernt hatte, Mitglied im Ausschuss der „Opfer des Faschismus“ sowie Polizeipräsident in Zwickau, erklärte Ernst die stalinistische Logik des „antifaschistischen Deutschlands: Recht auf Entschädigung hätten nur aktive Widerstandskämpfer gegen das Naziregime. Manche sagten sogar: „Wer das Lager überlebt hat, kann gar kein richtiger Widerstandskämpfer sein…“ So wie Ernst ging es Tausenden in Ost und West, die als Bettler*innen, Landstreicher*innen oder Prostituierte von den nationalsozialistischen Behörden in Konzentrationslager gesperrt wurden. Die NS-Kategorisierung wurde kritiklos übernommen, eine Entschädigung fand nicht statt.

2020: „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ als NS-Opfer

2018 startete Frank Nonnenmacher eine Petition, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ endlich als NS-Opfer anzuerkennen. Am 13.02.2020 gab der Bundestag diesem Anliegen ohne Gegenstimme statt. Ebenfalls wird eine Wanderausstellung erstellt, die auf die Opfergruppe hinweisen soll. Offen sind allerdings noch biografische Forschungsprojekte zu Hinterbliebenen und die Aufarbeitung von Verfolgungsinstanzen (Fürsorgeämter, Wohlfahrtsverbände, …).

Fürth: 68 „Schwarze“ und „Grüne“

Siegfried Imholz, Mitherausgeber des „Antifaschistischen Stadtrundgangs Fürth“, veranschaulicht das Leid der Opfer im Raum Fürth. So kamen laut dem Dachauer Archiv 68 Häftlinge mit dem schwarzen oder grünen Winkel aus der Kleeblatt-Stadt, von denen 28 dort oder in einem der anderen Lager (Buchenwald, Groß Rosen, Mauthausen, Sachsenhausen, Stutthof) starben. Laut den Aufzeichnungen seien 16.000 der zwischen 1933 und 1945 ca. 220.000 Inhaftierten als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ kategorisiert worden. Dem Nürnberger Kommunist Ludwig Göhring (Dachau, Flossenbürg, Neuengamme) zufolge handelte es sich dabei zum großen Teil um Arbeitslose der Weimarer Zeit, die von den „Politischen“ isoliert und zu schwerer Arbeit herangezogen wurden.

CSU-Abgeordneter: „Dachau wiedereröffnen“

Einer dieser Menschen war Johann. Der 18-Jährige wurde 1939 dienstverpflichtet und musste deshalb täglich 10 km von/zur erzwungenen Arbeit laufen. Als er wegen schlechten Wetters einige Male nicht erscheint und beim „Feindsender-Hören“ erwischt wird, lautet das Urteil für den nun „Arbeitsscheuen“: Dachau, Buchenwald, Langenstein-Zwieberge (Halberstadt). Beim Todesmarsch gelingt Johann 1945 die Flucht. Doch die bundesdeutschen Behörden weigern sich, die Lagerhaft zu seinen Rentenkassen-Beiträgen zu rechnen. Der Fürther Bürgermeister Johann Schmidt (SPD) kritisiert im September 1945 stattdessen, dass man auch „unverbesserliche Schwerverbrecher und arbeitsscheue Elemente“ mit Kriegsende aus den Konzentrationslagern gelassen hätte. Am 16. Januar 1948 stimmt der Bayerische Landtag (CSU, SPD, WAV, FDP) einstimmig dem Antrag des CSU-Abgeordneten Hans Hagn zu, Dachau als Umerziehungslager für „asoziale Elemente“ wiederzueröffnen. Die Umsetzung scheiterte, da das Gelände als Flüchtlingslager genutzt werden musste.

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