Linke Perspektiven auf Antisemitismus

23. Oktober 2022  Gesellschaft
Geschrieben von Kreisverband

Quelle: Rosa-Luxemburg-Stiftung (CC BY 3.0)

Hass gegen Juden als Widerstand gegen eine komplex erscheinende Welt sowie Gemeinsamkeiten von Antisemitismus und Rassismus waren Diskussionspunkte bei „Linke Perspektiven auf Antisemitismus“. Bei der Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung wurde die 2021 erschienene Studie „Aktueller Antisemitismus in Deutschland“ besprochen.

Der übersehene Hass

„Antisemitismus ist eine Abwehrreaktion von gesellschaftlicher Komplexität, da hier ein einfaches Gut-Böse-Schema geboten wird“, erklärte Anne Goldenbogen, Mitautorin der Studie „Aktueller Antisemitismus in Deutschland“. In der Bundesrepublik hingen rund 10 Prozent der Bevölkerung konstant einem klassischen Antisemitismus an, während israelbezogener Judenhass gewissen Schwankungen unterläge. „Oft heißt es: ‚Antisemitismus – das ist der nationalsozialistische Massenmord‘“, erläuterte sie. Die zahlreichen Diskriminierungsformen unterhalb des Menschheitsverbrechens hingegen würden von vielen Deutschen gar nicht als antisemitisch empfunden.

Erhöhte Bedrohungslage

Dem gegenüber stehe der gelebte Alltag von jüdischen Menschen, die sowohl im Internet als auch im realen Leben von vielfältigen Beleidigungen berichteten. Dem entsprächen die Befunde der Leipziger Autoritarismus-Studie (2020), die eine stärkere Radikalisierung in der Gesellschaft festgestellt hatte. Ein Beispiel für antisemitische Erzählungen ist der Plan des „Großen Austauschs“, bei dem eine internationale Macht die globalen Migrationsströme lenke, um den nationalen Volkskörper aufzulösen, erläuterte Goldenbogen.

Sachliche Auseinandersetzung nötig

Die Behauptung, muslimische Flüchtlinge würden Antisemitismus nach Deutschland bringen, stelle in dieser Hinsicht eine Entlastung für die Gesellschaft dar. Muslimischer Antisemitismus sei jedoch oft auf den Nahost-Konflikt bezogen, erinnerte sie. Dies bedeute eine konkrete Situation mit meist persönlicher Erfahrung von familiärer Vertreibung und Gewalt. „Hier ist es wichtig, den Nahost-Konflikt ohne Rückgriff auf antisemitische Stereotype zu thematisieren“, mahnte die Wissenschaftlerin um mehr Sachlichkeit.

Gemeinsame Kämpfe

Sarah Kleinmann ging vertieft auf Zusammenhänge von Antisemitismus und Rassismus ein. Jüd*innen erlebten häufig aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit negative Zuschreibungen. Vergleichbares gelte auch für Jüd*innen, die nicht der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft angehörten, in Form von Rassismus. „Es gibt gemeinsame Kämpfe bei der persönlichen Betroffenheit von rechter Ausgrenzung“, analysierte Kleinmann übergreifende Allianzen. Gleiches gälte auch für Antiziganismus, da das patriarchale Zerrbild der verführerischen Jüdin dem der handlesenden Romnja sehr ähnele.

Ungarns Rechte

Der Historiker Florian Weis hob hervor, dass die Studie von Goldenbogen und Kleinmann dezidiert jüdische Perspektiven miteinbezog. Geschichtlich fuße der rassisch konnotierte Antisemitismus des 19. Jahrhunderts auf einem jahrhundertealten christlichen Antijudaismus. Aber auch der Stalinismus zeigte mit den Slánský-Prozessen (1952) in der CSSR oder der „Ärzteverschwörung“ (1953) kurz vor Stalins Tod starke antisemitische Züge. Ungewohnte Allianzen ergäben sich in der Gegenwart etwa in Ungarn. Dort habe die Rechte einerseits einen positiven Bezug auf die faschistische Diktatur der antisemitischen Pfeilkreuzler (1944/45) und sähe den jüdischen Geschäftsmann George Soros als Verursacher der Flüchtlingsbewegung von 2015. Gleichzeitig unterhalte die rechtsgerichtete Regierung unter Viktor Orbán gute Beziehungen zur konservativen Likud-Partei des ehemaligen israelischen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

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