TikTok: Der Kreml, Influencer*innen und der Krieg

26. Mai 2022  International
Geschrieben von Kreisverband

Authentische Berichterstattung von ukrainischen Bürger*innen, aber auch die Verbreitung kremlnaher Propaganda auf der Plattform – zwischen diesen beiden Polen befanden sich viele Kurzvideos auf TikTok. Der Journalist Marcus Bösch erläuterte auf der Konferenz „Influencing against the System?“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung Inhalte des chinesischen Musikportals während des Ukrainekriegs.

Kriegsberichte statt Urlaubsfotos

Valeria Shashemok (@valerissh) zeige statt Urlaubsvideos nun zerstörte Wohnhäuser in vom Krieg betroffenen Städten, die 18-jährige Alina Volik (@alina_volik) stelle per Kurzvideos ihren Alltag im Luftschutzkeller vor, zeigte Bösch zwei Beispiele ukrainischer TikTok-Nutzer*innen. „Das Dokumentieren der eigenen Lage versetzt die Menschen in eine aktive Rolle“, erläuterte der Wissenschaftliche Mitarbeiter der HAW Hamburg. Man sei der persönlichen Extremsituation nicht passiv ausgeliefert, sondern werde zum*r Berichterstatter*in des eigenen Selbst. Waren die Selbstzeugnisse des Zweiten Weltkriegs in Briefen oder Tagebücher zu finden und der Vietnamkrieg durch Kriegsberichterstatter*innen im TV zu sehen, werde der Ukrainekrieg von Augenzeug*innen per Smartphone aufgenommen, sagte er.

Unabhängige Quellen wichtig

Schon lange vor dem russischen Überfall am 24. Februar stellten Nutzer*innen Videos von Militärkonvois ins Netz. Journalist*innen des CNN ordneten die Uploads damals ein, eine Vorhersage der Truppenbewegungen wurde somit möglich. Bei Amateuraufnahmen müsse man sich jedoch stets die Frage stellen: „Was ist nicht dokumentiert?“ Ein Video vom 2. März von @igorevich_9008 zeigte, wie die unbewaffnete Bevölkerung der südukrainischen Stadt Melitopol gegen die russische Besatzung auf die Straße ging. Während die Demonstrierenden ukrainische Fähnchen schwenken, begannen russische Soldaten, Warnschüsse in die Luft abzugeben. Um als gesicherte Information zu gelten, müsse ein Ereignis stets von mehreren Quellen bestätigt werden, erklärte Bösch. Das von mehreren Personen aufgenommene Video-Material sei solch eine Möglichkeit.

Ukraine: Heldenkult

Große Bekanntheit wurde dem ukrainischen Soldaten Alex (@alexhook2303) zuteil. Der Clip, in dem er in Kampfmontur Michael Jacksons „Moonwalk“ tanzt, wurde von der ukrainischen Tourismusbehörde weiterverbreitet und erhielt Aufrufe im zweistelligen Millionenbereich. „Hier wird das Narrativ vom Kämpfen, Töten und Sterben des Soldaten aufgebrochen“, kommentierte Bösch. Stattdessen werde eine Heldenerzählung inszeniert, die besage „Wir werden in unserem Land tanzen, wenn die Russen zurückgeschlagen sind.“ Ähnlich sei der Funkspruch der Grenzschützer der Schlangeninsel einzuordnen („Russisches Kriegsschiff, f… dich!“), der zum Synonym des ukrainischen Widerstandswillen wurde. Öffentlich dementiert wurde hingegen der „Geist von Kyiv“. Dabei soll es sich laut Influencer*innen um einen Piloten gehandelt haben, der über der Hauptstadt sechs russische Kampfflugzeuge abgeschossen hätte. Die ukrainische Luftwaffe widersprach dieser Darstellung.

Russland: Propaganda

Kritisch zu hinterfragen seien Manipulationen und Falschinformationen auf der Video-Plattform. So wurden nach Kriegsbeginn viele Videos hochgeladen, deren Hintergrundgeräusche den Eindruck vermittelten, man befände sich in einem akuten Kampfgeschehen. Analysen ergaben, dass die Tonspur, mit der 1.552 Videos hinterlegt waren, ursprünglich abbrennende Pyro-Technik bei einem Fußballspiel, keinesfalls Schüsse, darstellte. Irreführend wären ebenfalls Aufnahmen von früheren Militärübungen, die als aktuelle Kampfeinsätze ausgegeben würden. Viele russische Influencer*innen würden allerdings auch direkt in die Kriegspropaganda des Kremls eingebunden, erläuterte Bösch. Beispielhaft seien Tanz-Choreographien, die mit einem mit Händen geformten „Z“ endeten. Recherchen von „Vice“ hatten ergeben, dass Skripte für entsprechende TikTok-Videos auf Telegram kursierten. „In vielen Aufnahmen nutzen die Influencer*innen exakt den gleichen Wortlaut“, wies der Journalist auf die Gleichförmigkeit der Propaganda hin.

Zahlen und Fakten

Weltweit wird TikTok von über einer Milliarde Nutzer*innen verwendet, in Deutschland von rund 16 Millionen. Vergleicht man dies mit den 11 Millionen Schüler*innen oder Netflix-Abonnent*innen, ist dies eine große Zahl. Am 6. März hat TikTok als Reaktion auf das russische Gesetz gegen sog. „Falschinformationen“ alle neuen Videos und Livestreams aus Russland verboten. Das Gesetz bestraft kritische Berichterstattung zum Ukrainekrieg mit bis zu 15 Jahren Gefängnis.

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