Ukraine: Nationalismus und extreme Rechte

26. Mai 2022  International
Geschrieben von Kreisverband

Quelle: VVN, Twitter

Die Lage der Linken in der Ukraine sowie rechtsextreme Bewegungen damals und heute waren Schwerpunkte der Veranstaltung „Ukrainischer Nationalismus, Geschichtspolitik und die Bedeutung der extremen Rechten in der Ukraine“. Diese war Teil der Reihe „Nationalismus und Geschichtsrevisionismus“, die von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*innen (VVN-BdA) organisiert wurde.

Vernichtung

„Im Zweiten Weltkrieg wurden 1,6 der 2,4 Millionen ukrainischer Jüd*innen ermordet“, erläuterte Historiker Dr. Johannes Spohr die Folgen der deutschen Besatzung. Rund 80 Prozent seien direkt vor Ort erschossen worden. Über eine Million Zwangsarbeiter*innen wurden ins Deutsche Reich deportiert. Etwa sieben Millionen ukrainische Soldaten hätten in der Roten Armee gegen die Wehrmacht gekämpft, wobei drei Millionen Rotarmisten nach ihrer Gefangennahme in deutschen Lagern verhungerten. Aus nationalsozialistischer Sicht sei das ukrainische Volk eine „Kaninchenfamilie“, die von einer Herrenrasse regiert werden müsse. Das rassistische Weltbild verdeutlichte Spohr zufolge eine bei Kiew lebende Ukrainerin: „Niemand hielt uns für Menschen. Die Passanten schrien: ‚Russische Schweine‘“.

Kollaboration

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht arbeiteten die konkurrierenden Organisationen Ukrainischer Nationalisten Bandera (OUN-B) und Melnyk (OUN-M) zeitweise mit den Deutschen zusammen. So stellte die OUN-B zwei Wachbataillone, Milizen dienten in Polizeieinheiten oder nahmen an Pogromen gegen Jüd*innen und Kommunist*innen teil. Die Hilfspolizei, die sich meist aus gefangenen Rotarmisten zusammensetze, half bei der Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung oder der Partisan*innenbekämpfung. Da die Nationalbewegung den Interessen der deutschen Besatzer zuwiderlief, wurde Stepan Bandera 1941 ins KZ Sachsenhausen deportiert, seine Organisation verboten. Die OUN-M rief dazu auf, sich der ukrainischen 14. Waffen-SS-Divison „Galizien“ anzuschließen, die 1943 eine Stärke von rund 12.000 Mann hatte.

Linke unterstützen Krieg

Stanislav Serhiienko, Redakteur der ukrainischen linken Zeitschrift Commons, erklärte, durch den russischen Überfall am 24. Februar habe die Linke den Boden unter den Füßen verloren. Sei sie seit der Krim-Annexion 2014 in drei Teile gespalten, die sich entweder für die Separatist*innen im Osten, die staatliche „Anti-Terror-Operation“ dagegen oder für Verhandlungen und Dialog aussprachen, ginge es jetzt einzig und allein um die Existenz des ukrainischen Staates. „Die meisten Linken sprechen sich für den Kampf gegen die Invasoren aus, sind in den Streitkräften oder der Territorialverteidigung aktiv oder leisten humanitäre Hilfe“, verdeutlichte er linkes Engagement. Gleichzeitig habe der Krieg auch politische Programme rechtsextremer Parteien nivelliert, da nicht die nächste Parlamentswahl, sondern einzig das Überleben von Bedeutung sei. Den Anteil rechtsextremistischer Kämpfer im Asow-Regiment in Mariupol schätzte er auf ca. 1 Prozent. Seit die Einheit dem Innenministerium unterstehe, unterläge die Zuteilung neuer Soldaten dem Zufallsprinzip.

Krieg verhindert Gesellschaftsdiskurs

Erinnerungspolitisch habe man nach den Maidan-Protesten 2013/14 eine (erfolglose) Dekommunisierung des Landes angestrebt. Während ukrainische Nationalist*innen glorifiziert wurden, sollten sowjetische Feiertage wie der 8. März, der 1. und 9. Mai abgeschafft werden. Dieses Programm setzte sich jedoch nicht durch. Präsident Selenskyj nutze vielmehr genuin sowjetische Narrative bezüglich der Abwehr der russischen Streitkräfte. So sei der aktuelle Kampf gegen die „faschistischen Angreifer“ als ein ukrainischer „Vaterländischer Krieg“ zu sehen. Ein Rechts-Links-Schema für Parteien sei nicht zielführend, da diese sich eher durch Hinwendung zu Russland oder der Europäischen Union unterschieden, erläuterte Serhiienko. Hatte Selenskyj versucht, die westlichen und südöstlichen Landesteile durch je eigene Helden- und Erinnerungserzählungen in ihrer Unterschiedlichkeit zu vereinen, hätte der Krieg diese gesellschaftspolitische Debatte verdrängt.

Demokratie Ukraine

Die Slavistin Lara Schultz wies auf die Ungenauigkeiten von Zuschreibungen wie „pro-ukrainisch“ oder „pro-russisch“ in den jeweiligen Landesteilen hin. Mögliche Ansatzpunkte seien die ukrainische oder russische Muttersprache sowie die persönliche Erinnerungskultur, die sich eher an der Unabhängigkeit oder dem Sieg über den Faschismus orientiere. Seit 1991 hätten sich Präsidenten beider Strömungen im Amt abgewechselt. Diese demokratische Regelmäßigkeit wie auch die hohen Zustimmungswerte Selenskyjs im Südosten des Landes belegten, dass die Ukraine keinesfalls ein „faschistischer Staat“ sei, erklärte Schultz.

Rechte Splitterparteien

Medienwirksam sei die extreme Rechte bei den Maidan-Protesten als Selbstschutz gegen die staatliche Gewalt des damaligen Präsidenten Janukowytsch ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Der folgenden Übergangsregierung gehörten sechs Minister mit extremistischen Hintergrund, etwa des „Rechten Sektors“, an. Bei den Parlamentswahlen 2019 verfehlte die Partei ebenso wie der rechte Zusammenschluss „Swoboda“ die erforderliche 5-Prozent-Hürde. Jedoch traten einzelne Mitglieder auch auf den Listen anderer Parteien an. Der einstige Kommandeur des Asow-Regiments, Andrij Bilezkyj, gründete 2016 die Partei „Nationalkorps“. In ihrem Programm forderte sie eine Liberalisierung des Waffenrechts, feste Quoten für Migration sowie keine staatliche Unterstützung für „Asoziale“ oder Obdachlose. Bei den letzten Wahlen scheiterte die Partei an der vorgeschriebenen 5-Prozent-Hürde. Die Stärke des Regiments werde (je nach Eigen- oder Fremdangaben) von 900 bis zu 10.000 Mann angegeben, sagte Schultz.

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