Gedenken an Enver Şimşek, erstes Mordopfer des NSU

08. September 2020  Regional
Geschrieben von Kreisverband

Zum 20. Jahrestag der Ermordung von Enver Şimşek, dem ersten NSU-Opfer, demonstrierten rund 300 Menschen in Nürnberg-Langwasser. Neben Angehörigen und der Nebenklageanwältin der Familie kamen auch Aktivist*innen aus zivilgesellschaftlichen Bündnissen zu Wort.

Abdul-Kerim Şimşek war 13 Jahre alt, als sein Vater an der Liegnitzer Straße zwischen Nürnberg-Langwasser und Altenfurt mit acht Kugeln in seinem Transporter erschossen wurde. 20 Jahre nach dem Mord steht er auf dem LKW des Nürnberger Bündnis Nazistopp an der Waldeinbuchtung, neben ihm der mobile Verkaufsstand von „Şimşek Blumen Groß- und Einzelhandel“, an dem sein Vater Blumen verkaufte. „Es ist ein bedrückendes Gefühl, hier zu stehen und zu wissen, dass mein Vater mehrere Stunden schwerverletzt in seinem Blumentransporter lag“, sagt er den ca. 300 Menschen, die zu der Gedenkveranstaltung gekommen sind. Es hätte 11 Jahre gedauert, bis er wusste, wer seinen Vater umgebracht hatte. Diese 11 Jahre waren voller Beschuldigungen: Die Familie Şimşek würde etwas verheimlichen, der 38-jährige Vater sei eigentlich ein Drogendealer gewesen. Bis heute wüsste er nicht, warum der Nationalsozialistische Untergrund an diesem 9. September 2000 seinen Vater als Opfer ausgewählt hätte, erzählt er. Bis auf Beate Zschäpe seien alle Angeklagten des NSU-Prozesses wieder auf freiem Fuß. Dies sei ein deutliches Zeichen, dass der Staat auf dem rechten Auge blind sei. „Ich habe kein Vertrauen in diesen Staat“, schließt Abdul-Kerim Şimşek seine Rede.

Seda Basay-Yildiz, Nebenklageanwältin der Familie Şimşek im NSU-Prozess, führt aus, dass es die Pflicht des Staates sei, die Würde der in ihm lebenden Menschen zu schützen. Doch wer schützte vor Beamten, die diese freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht ernst nähmen, fragte sie. „Das Telefon der Familie wird abgehört, eine außereheliche Affäre des Ermordeten unterstellt, eine blutige Abrechnung im Drogenmilieu als Mordmotiv konstruiert“, zählt sie auf. Der Rechtsstaat habe die Opfer im Stich gelassen, ist ihre Bilanz der 438 Verhandlungstage und 3.025 Seiten langen Urteilsbegründung. Dass nur Beate Zschäpe verurteilt wurde, sei von der rechten Szene mit Applaus quittiert worden. Weder sei die Rolle rechter Netzwerke oder die Arbeit von Polizei und Geheimdiensten kritisch beleuchtet worden. „Dieses Urteil darf kein Schlussstrich sein!“ ist ihr eindringlicher Appell.

Kutlu Yurtseven von der Initiative „Keupstraße ist überall“ kritisiert ebenfalls die Ermittlungsbehörden. Als 2001 im Lebensmittelladen einer iranisch-deutschen Familie in Köln eine Bombe explodierte, wurde der Vater schnell als angeblicher Drogendealer mit Spielschulden stigmatisiert – die Familie musste schließlich wegziehen. 2004 detonierte in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe vor dem Friseursalon der Brüder Yildirim – über zwanzig Menschen wurden verletzt. Dem Hinweis, dass ein Sprengsatz wahllos verletze und töte, es also kein gezielter Anschlag wegen nicht gezahltem Schutzgeld hätte sein können, wurde nicht nachgegangen. Stattdessen wurden die Angehörigen von den Behörden und Medien mit dem Stigma „Döner-Morde“ zum Schweigen gebracht. Und auch Bundespräsident Gauck soll am 10. Jahrestag des Bombenanschlags am Friseurladen gesagt haben: „Nächstes Jahr komme ich wieder und dann reden wir hier alle deutsch.“ Die rechtsextremen Mord-Serie des NSU, das antisemitische Attentat in Halle oder der ausländerfeindliche Anschlag in Hanau – „Der aktuelle Rechtsextremismus gehört in den Geschichtsunterricht, in die Lehrpläne der Schulen“, ist sich der Aktivist sicher.

Birgit Mair vom Nürnberger Bündnis Nazistopp sieht eine Kontinuität in den rechtsextremen Verbrechen des NSU (1999-2007), der Ermordung des Kasselers Regierungspräsidenten Walter Lübcke (2019), den Anschlägen in Halle (2019) und Hanau (2020) sowie den Demonstrationen der „Corona-Rebellen“, wo Reichsbürger, QAnon-Anhänger und Rechtsextreme Seite an Seite mit der „bürgerlichen Mitte“ demonstrieren. „Rechtes Gedankengut ist seit dem NSU überall“, stellt die Kuratorin der Ausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ fest.2018 erschien die vierte Auflage des Begleitbuchs zur Wanderausstellung am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung.

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