Algerien: Demokratiebewegung Hirak

17. Mai 2022  International
Geschrieben von Kreisverband

Demonstration am 9. Juni 2019 in der Stadt Bejaia, Region Kabylei (Foto: Akechii, CC BY-SA 4.0)

Ursachen, aber auch Gründe für das Scheitern der Hirak-Proteste 2019 in Algerien wurden von Aktivist*innen und Expert*innen erläutert. Die Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) fand anlässlich des 60. Jahrestag der Unabhängigkeit Algeriens statt.

Landesweite Massenproteste

Sofian Naceur, verantwortlicher Journalist für das Büro der RLS Nordafrika, erläuterte die Hintergründe der Proteste. Der Verfall des Ölpreises 2014/15 führte zu massiven wirtschaftlichen und sozialen Problemen in der gesamten Bevölkerung. Auslöser war jedoch die fünfte Präsidentschaftskandidatur von Abd al-Aziz Bouteflika, der das Amt bereits seit 20 Jahren ausübte. Aufgrund eines Schlaganfall saß er seit 2014 im Rollstuhl und hatte seitdem keine einzige öffentliche Rede mehr gehalten. Den Spontanprotesten in der Hauptstadt Algier sowie in Ostalgerien schlossen sich bald die Oppositionsparteien an, so dass eine Massenbewegung entstand. „Die algerische Polizei fährt Mercedes und erhält deutsche Technik zum Grenzschutz und zur polizeilichen Überwachung“, erklärte Naceur die Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik. Darüber hinaus liefere Thyssenkrupp Fregatten, Rheinmetall den Radpanzer Fuchs 2, das Modell Boxer (Rheinmetall/Krauss-Maffei Wegmann) sei in Planung.

Gefängnis, Verfolgung, Verbote

Politikwissenschaftlerin Naoual Belakhdar wies darauf hin, dass Bouteflika aufgrund der Proteste vom Generalstabschef abgesetzt wurde, im Zuge der Corona-Pandemie die Demonstrationen im Mai 2020 jedoch verboten wurden. „Über 300 Menschen sitzen als politische Häftlinge im Gefängnis, viele Bürger*innen werden strafrechtlich verfolgt“, stellte sie die aktuelle Situation dar. Die Organisationen Rachad und sowie die Bewegung für die Autonomie der Kabylei (MAK), deren Ziel ein Autonomiestatus der von Berber*innen bewohnten Provinz ist, wurden von der Regierung zur terroristischen Organisation erklärt. Dabei verstünden die Menschen ihre Proteste als legitime Fortführung des revolutionären Unabhängigkeitskrieg von 1962.

Wohlstand gerecht verteilen

Das algerische Volk wolle die gerechte Verteilung des nationalen Reichtums, erläuterte Salah Ayoub, der in der Diaspora-Opposition Hirak Berlin aktiv ist. Man gehe gegen ein korruptes und tyrannisches System auf die Straße und trete für starke staatliche Institutionen ein, die die Freiheiten der Bürger*innen respektierten. Vor allem die jungen Leute wollten ihr Recht auf Arbeit und Wohnen gewahrt wissen. Aufgabe der Opposition im Ausland sei es, internationale Organisationen auf die stattfindenden Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, sagte Ayoub.

Geld statt Mitbestimmung

Dr. Isabelle Werenfels von der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin erklärte, dass in dem einstigen Einparteienstaat ein starkes Klientelsystem existiere, bei dem Militär, Politik, Verwaltung und Wirtschaft klar auf den Präsidenten ausgerichtet waren. „Das Regime schlägt aus den erhöhten Gas- und Ölexporten aufgrund des Ukrainekrieges Kapital“, erläuterte sie die internationale Politik. Die Regierung könne dadurch Steuern senken und Subventionen erhöhen, um sich die Loyalität der armen Bevölkerung zu erkaufen. Ebenso werde mit der Angst der Menschen vor dem „äußeren Feind“ Marokko sowie einer Unterwanderung der Proteste durch Islamisten als „innere Feinde“ gespielt.

Regime behält Oberhand

Ebenfalls male das Regime die Gefahr eines Bürgerkriegs wie in Syrien an die Wand, ergänzte Prof. Dr. Rachid Ouaissa von der Universität Marburg. Doch die Friedfertigkeit der Proteste von 2019 hätten diese staatliche Behauptung konterkariert. Letztendlich habe sich die Idee des Regimes jedoch durchgesetzt, da es der Protestbewegung an einem einigenden Gesellschaftsprojekt mangelte. „Man hat es nicht geschafft, die Arbeiter*innen, die Unternehmen sowie die korrupten Kleptokraten von einer nachrevolutionären Gesellschaft zu überzeugen“, erläuterte er. Es fehlte an einem klaren ökonomischen Programm sowie einer politischen Vertretung der einzelnen Regionen, um die geforderte Demokratie mit Inhalt zu füllen. So kam es, dass sich der vom Militär gestützte Präsident Abdelmadjid Tebboune als legitimes Ergebnis der Protestbewegung sieht.

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