Chile nach der Präsidentschaftswahl

11. August 2022  International
Geschrieben von Kreisverband

Karina Nohales (Quelle: Francisco Velásquez/interferencia.cl)

Eine hohe Wahlbeteiligung kommt fast immer den linken Parteien zugute, bilanzierte die chilenische Feministin und Aktivistin („Coordinadora Feminista 8M“) Karina Nohales aus der vergangenen Präsidentschaftswahl. Doch sieht sie die ersten Monate der neuen linken Regierung auch kritisch.

Militär und keine Polizeireform

Am 11. März 2022 wurde der linke Präsidentschaftskandidat Gabriel Boric aus dem Parteienbündnis Apruebo Dignidad ins Amt eingeführt. Doch schon wenige Monate später wurden einige von der Regierung versprochenen Maßnahmen wieder rückgängig gemacht, erläuterte Nohales. „Am 17. Mai wurde im Gebiet der indigenen der Mapuche erneut der (militärische) Ausnahmezustand verhängt.“ Angetreten war Boric mit der Ansage, die Militarisierung der Region Wallmapu zu beenden. Ebenfalls vermisste die Anwältin eine tiefgreifende Polizeireform, da es während der sozialen Proteste 2019 zu systematischen Menschenrechtsverletzung gekommen sei. Eine weiterhin offene Forderung bestünde in der Freilassung der politischen Gefangenen, mahnte sie an. „Es ist noch unklar, ob die Regierung ihre Versprechen einlösen und den Transformationsprozess wirklich umsetzen wird“, sagte Nohales mit Blick auf einen neuen Gesellschaftsentwurf für Chile.

Mehrheit für linke Veränderung

Die grundlegendste Entscheidung der Regierung bestünde darin, für welche Gruppe sie sich entschiede, auf welche Bevölkerungsschichten sie sich stütze und wen sie als ihre soziale Basis betrachte, erläuterte die Aktivistin. Mit der Wahl Borics habe sich die Mehrheit der Bevölkerung für eine Änderung des neoliberalen Systems ausgesprochen. Jedoch sei die Lebenseinstellung in weiten Teilen zutiefst karrieristisch und individualistisch geprägt. Und die politische Rechte punkte auch weiterhin mit ihrer Agenda. „Migration und deren Kriminalisierung, Kriminalität und Drogenhandel erscheinen als die dringendsten Anliegen der Menschen“, bilanzierte sie. Das war einer der Gründe, warum der Kandidat der extremen Rechten, José Kast, bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl vorne lag. Doch wie kam es dann zu Borics Wahlsieg?

Unterprivilegierte entscheiden Wahl

Bei hoher Wahlenthaltung sei das Ergebnis eher konservativ, eine steigende Wahlbeteiligung stärke hingegen meist das Ergebnis der Linke, erläuterte sie. Das heißt, breite Teile der Gesellschaft spielten eine entscheidende Rolle für den Wahlausgang. Kast erzielte das gute Ergebnis, da damals auch eine hohe Enthaltung herrschte. Auch die ärmsten Teile der Bevölkerung und die am besten organisierten sozialen Bewegungen hatten Boric weder in der ersten Runde unterstützt noch aktiv zu seiner Wahl aufgerufen. Aber angesichts des Risikos der extremen Rechten hatte sich dies in der zweiten Runde geändert. Im ganzen Land bildeten sich progressive Gruppen und die Wahlenthaltung ging zurück – besonders stark unter den Frauen, den ärmsten Stadtteilen und den „zonas de sacrifico“. „Das sind die Orte, in denen die auf den Export von Rohstoffen ausgerichtete Wirtschaft (Extraktivismus) die Bewohner*innen ohne Wasser und ohne Gesundheitsversorgung zurückgelassen hat“, erklärte Nohales. Das habe dazu geführt, dass die Wahlbeteiligung sehr stark wuchs und somit Borics Wahlsieg möglich wurde.

Wie weiter?

„Wird sich Boric auf die stützen, die ihm ihre breite Unterstützung gaben, um den Vormarsch der extremen Rechten zu verhindern?“, fragte sie. Oder werde er sich der Gruppe der sozial-liberalen Zentrumsparteien zuwenden? Nach den ersten 100 Tagen der neuen Regierung sei erkennbar, dass wichtige Positionen aus diesen Parteien besetzt würden. Vor allem aus der sozialistischen Partei, die jedoch keine linke, sondern eine den Neoliberalismus verwaltende Partei ist, sei dies der Fall. Wie es um die Kernpunkte der sozialen Transformation des Landes weg vom Neoliberalismus steht, werde die Zukunft zeigen.

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