Man solle Putin eher mit früherem Kolonialismus, nicht mit dem Nationalsozialismus messen und bei Vergleichen immer genau nachfragen. Das waren die Kernbotschaften der Veranstaltung „NS-Vergleiche. Die deutsche Debatte um den Ukrainekrieg“. Diese wurde von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*innen (VVN-BdA) organisiert.
Aufmerksamkeit durch Shoah
„Die deutsche Erinnerungskultur ist im Umbruch“, stellte die Journalistin Charlotte Wiedemann fest. Für sie sei es heuchlerisch, wenn man die Aufarbeitung deutscher Kolonialverbrechen als eine Relativierung der Shoah kritisiere, aber die Darstellung von Putin als „der neue Hitler“ unwidersprochen lasse. In der außereuropäischen Debatte komme es etwa viel häufiger zu einer Bezugnahme auf den nationalsozialistischen Massenmord an Jüd*innen. „Die betroffenen Opfergruppen wollen mit ihrem eigenen Leid durch die Anlehnung an die Shoah in der Medienöffentlichkeit wahrgenommen werden“, erklärte sie.
Sklaverei, Bürgerkrieg, Rassentrennung
So verglich die südafrikanische Anti-Apartheit-Bewegung das Leid der Schwarzen mit dem der Jüd*innen in Europa. Nigerianische Intellektuelle benutzten während des Biafra-Kriegs (1967-79) Auschwitz-Vergleiche. Aktivist*innen bezeichneten die jahrhundertelange Versklavung als „schwarzen Holocaust“, während manche Historiker*innen die Ausrottung der First Nations einen „amerikanischen Holocaust“ nannten.
Russische Kolonialpolitik
„Wenn man ‚Vernichtungskrieg‘ von dem alleinigen Bezug auf die Verbrechen der Wehrmacht löst, ist auch der Maji-Maji-Krieg (1905-07) in Deutsch-Ostafrika ein solcher gewesen“, ging Wiedemann auf solch verändertes Denken ein. Ihrer Einschätzung nach solle man Putins Krieg in der Ukraine viel mehr als einen kolonialen Feldzug und weniger als die Fortsetzung nationalsozialistischer Politik sehen.
Vergleichen, nicht gleichsetzen
Ein genaues Hinsehen war der Appell des Historikers Christoph Dieckmanns. „Wir vergleichen jeden Tag, den der Vergleich hilft uns, Unterschiede zu erkennen“, erklärte er. Der oft fassungslose Satz „Das kann man doch nicht vergleichen!“ bedeute daher eigentlich, „das kann nicht gleichgesetzt werden“. In Litauen sei es etwa Gang und Gäbe, dass man den nationalsozialistischen Faschismus mit dem stalinistischen Terror vergleiche, da man dort beide Herrschaftsformen erlebt habe.
Begriffe ändern sich
In der medialen Diskussion riet der Wissenschaftler zu akribischer Recherche. So solle man den Gegenüber fragen, was er genau meine, wenn er bestimmte Begriffe – etwa Vernichtungskrieg oder Faschismus – nutze. „Wörter verändern mit zunehmendem Informationsstand ihre Bedeutung“, erklärte er diese Notwendigkeit. Denn nach dem Öffnen sowjetischer Geheimarchive ab 1991 habe beispielsweise der Begriff „Totalitarismus“ eine andere Bedeutung als noch vor 50 Jahren.
Erinnerungspolitik im Wandel
Auf eine veränderte Erinnerungspolitik machte der frühere Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, Günter Morsch, aufmerksam. Während die westdeutsche Erinnerungspolitik von engagierten Bürger*innen und nur in geringem Maße von der Regierung ausging, instrumentalisierte die SED dies so, dass das Gedenken zu einer oberflächlichen Ritualisierung verkam. „Nach der Wiedervereinigung wurden Gedenkstätten als außenpolitische Notwendigkeit gesehen“, erläuterte er die wissenschaftlich-pädagogischen Bildungsangebote, etwa in Ravensbrück.
Weiterführende Links:
- VVN-BdA (28.3.2023): NS-Vergleiche. Die deutsche Debatte um den Ukrainekrieg – https://www.youtube.com/watch?v=OVkrO8vqmT0
- Die Linke SC-RH (26.10.2022): Mathias Wörsching: Was ist Faschismus? – https://www.die-linke-schwabach-roth.de/gesellschaft/mathias-woersching-was-ist-faschismus/
- Riga-Komitee: Šķirotava – http://www.riga-komitee.eu/gedenkstaetten/skirotava