Polen: der unbekannte Nachbar

18. Oktober 2022  Geschichte
Geschrieben von Kreisverband

Ausschnitt aus einer zeitgenössischen Karikatur zur ersten Teilung Polens 1772: Katharina II., Joseph II. und Friedrich II. verteilen das Territorium, während sich Stanisław II. August verzweifelt an die Krone greift (Getty Images; RLS)

Die jahrhundertlange Nichtexistenz des polnischen Staates ist etwas, was im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit kaum präsent ist. Deswegen beschäftigte sich die 19. Folge von „Rosalux History“, dem Geschichtspodcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung, mit den drei Teilungen Polens.

Großmacht und Wahlmonarchie

Im 10. Jahrhundert zum Christentum konvertiert, wurden die einzelnen polnischen Fürstentümer 1320 zu einem Staat vereint. 1364 wird in Krakau die zweite Universität Mitteleuropas gegründet. Politisch und militärisch gewinnt die Union Polen-Litauen so viel Macht, dass sie 1410 sogar das Heer des Deutschen Ordens bei Tannenberg vernichtend schlagen kann. 1493 gründet sich der Sejm (Reichstag) als adelige Ständevertretung – den vom Bürgertum dominierten Städten ist die politische Beteiligung untersagt. Die polnischen Adeligen weiten ihren Einfluss auf Kosten der Krone sowie der Bauernschaft aus. Über 200 Jahre lang wird Polen eine Wahlmonarchie, in der politisch schwache, meist ausländische Herrscher das Regierungsamt ausüben, ohne den Interessen des Adels gefährlich werden zu können.

Schwacher Staat und Erste Teilung

Durch die starke Stellung der einzelnen Fürsten verpasst Polen jedoch den bürokratisch-militärischen Anschluss. Während im Rest Europas absolutistische Herrscher einen Zentralstaat mit stehendem Heer, einem effektiven Steuersystem und einer funktionsfähigen Verwaltung formen, bleibt genau diese Zentralmacht in Polen geschwächt. 1648 rufen aufständische Kosaken den russischen Zaren zu Hilfe, der militärische Niedergang scheint mit dem Großen Nordischen Krieg (1700-1721) gegen den Schwedenkönig Karl XII. besiegelt. 1772 machen sich Friedrich II. von Preußen und Zarin Katharina die Große die Schwäche Polens zunutze und annektieren in der Ersten Teilung weite Gebiete des Landes.

Ein Land verschwindet

1791 verabschiedet der Sejm mit dem „Regierungsgesetz“ die erste geschriebene Verfassung Europas, die eine Gewaltenteilung sowie Volkssouveränität vorsieht. Um diese „französische Pest des Jakobinismus“ auszumerzen, initiieren Russland und Preußen einen Bürgerkrieg, an dessen Ende 1793 die Zweite Teilung Polens stand. Zwei Jahre später – 1795 – teilen Russland, Preußen und Österreich das Land schließlich ganz unter sich auf. Im Zuge dessen schlossen sich viele Polen der französischen Armee Kaiser Napoleon Bonapartes an, da dieser vorgab, mit dem Herzogtum Polen wieder einen eigenständigen Staat ins Leben rufen zu wollen. Doch der Sieg der restaurativen Kräfte sowie der anschließende Wiener Kongress (1815) zerstörte diese Hoffnung. Der polnische Staat verschwand von der Landkarte.

Unterdrückung und Sozialismus

Das sogenannte „Kongress-Polen“ unterstand gänzlich dem russischen Zaren. 1830 und 1863 kam es zu zwei Aufständen gegen die russischen Herrscher, die jedoch niedergeschlagen wurden. In Zuge dessen wurde die polnische Sprache in Schule und Alltag untersagt, das Wort „Polen“ gar verboten. Wie diese „Russifizierung“ setzte auch in den preußisch annektierten Gebieten eine „Germanisierung“ der Bevölkerung ein. Schließlich gründet sich die Polnische Sozialistische Partei, aus deren Abspaltung die Sozialdemokratie des Königreich Polens und Litauen hervorgeht – deren Mitbegründerin: Rosa Luxemburg. Eine weitere politische Bewegung ist der Allgemeine jüdische Arbeiterbund. Während der zaristische Absolutismus sowohl die polnische, litauische, ukrainische und belarussische Sprache und Kultur unterdrückt, gehen polnische Nationalisten ihrerseits gegen ukrainische, litauische und jüdische Minderheiten im Land vor.

Staatsgründung und Nationalismus

Nach dem Zusammenbruch der russischen, österreichischen und deutschen Monarchien am Ende des Ersten Weltkriegs wird Józef Piłsudski, ein einstiger Sozialist und Zellengenosse von Lenins Bruder in St. Petersburg, der militärische Oberbefehlshaber über die nun neu entstandene polnische Armee. 1921 wird dem Land die Westukraine und Teile Belarus‘ zugesprochen. Die dadurch multi-ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung führt mit dem erstarkenden Nationalismus zu inneren Spannungen. Piłsudski agiert vermehrt nationalistisch und autokratisch, 1926 kommt es zum Staatsstreich. Die ihm nachfolgende Regierung radikalisiert sich zunehmend, da sie die Zugehörigkeit zum Staat durch Nationalpatriotismus und Katholizismus definiert.

Sowjetunion und Deutsches Reich

1937 wird die internationalistisch ausgerichtete Kommunistische Partei (KP) Polen auf Geheiß Josef Stalins liquidiert, tausende Anhänger als angebliche „Agenten“ hingerichtet. Am 28. April 1939 kündigt Adolf Hitler den bestehenden Nichtangriffspakt mit Polen, der Neutralitätspakt mit der Sowjetunion wird hingegen verlängert. Im August treffen sich der nationalsozialistische Außenminister Ribbentrop und sein sowjetischer Kollege in Moskau und handeln des Molotow-Ribbentrop- (bzw. Hitler-Stalin)-Pakt aus, in dessen Zusatzprotokoll die Aufteilung der Polnischen Republik festgelegt wird. Ein Aufschrei der – inzwischen stalinistischen – KPs aller Welt aufgrund des Schulterschluss‘ von Faschisten und Kommunisten bleibt aus. Am 1. September 1939 überfällt Hitler Polen, am 16. September rückt die Rote Armee von Osten her in das Land ein. 1940 ermordet der sowjetische Geheimdienst NKWD tausende Offiziere und Intellektuelle („Massaker von Katyn“).

Eigenständigkeit und Traditionalismus

1945 fallen die polnischen Ostgebiete an die Sowjetunion, während Polen im Gegenzug Ostpreußen, Schlesien und Pommern erhält. Bis zum Zusammenbruch der Sowjetion 1991 unterliegt Polen der Oberherrschaft aus Moskau. Die zahlreichen Teilungen und Besetzungen des Landes durch fremde Mächte machen die Souveränität des Staates zu einem hohen Gut. Die rechtskonservative PiS-Regierung propagiert einen auf Tradition und Unabhängigkeit ausgerichteten Patriotismus. Dabei bedient sie sich oftmals „äußerer Feinde“, um ihre Wählerschaft zu einen und von inneren Problemen abzulenken. Lokale Forschungsprojekte der Zivilgesellschaft, die sich etwa mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung beschäftigen, erhalten kaum staatliche Unterstützung.

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