Der Aufbau einer neuen Gesellschaft in Rojava und die Kriegsverbrechen des NATO-Partners Türkei in der Region waren Thema bei der Veranstaltung „10 Jahre Rojava“. Diese wurde von der Menschenrechtsorganisation Medico International organisiert.
Kurdischer Roter Halbmond hilft
Der seit 2011 andauernde Bürgerkrieg führte zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems in der Region. Deshalb gründete der Zahnarzt Sherwan Bery mit anderen Ärzten und Krankenschwestern den Kurdischen Roten Halbmond in Rojava. „Wir versuchten, den kriegsversehrten Menschen zu helfen und die ankommenden Flüchtlinge zu versorgen“, skizzierte er die Hauptaufgaben seiner Organisation. Der Kurdische Rote Halbmond wuchs von anfangs 15 auf mittlerweile rund 2.000 Helfer an.
Bedrohung durch Islamisten und Türkei
Eine große Bewährungsprobe stellte der Völkermord des IS an den Jesiden dar, der dafür sorgte, dass 2014 viele Menschen in Nordsyrien Schutz suchten. Bei der Schlacht um Kobanê (2014) und um ar-Raqqa (2016/17) erhielt die Gruppe als NGO erstmals Hilfsgelder der Europäischen Union. „Bei ar-Raqqa konnten wir 3.500 Menschen retten“, berichtete Bery über die Erfolge. Zugleich dokumentierte das medizinische Personal am Frontverlauf vom IS begangene Kriegsverbrechen. Wegen der bald erwarteten türkischen Militäroffensive auf das kurdische Gebiet bildet man aktuell so viele Rettungssanitäter wie möglich aus.
Türkische Kriegsverbrechen
Der Leitende Notarzt Michael Wilk stammt nach eigenen Angaben aus der anarchistisch-ökologischen Szene und begab sich 2014 auf eine Recherchefahrt für künftige internationale Unterstützung nach Rojava. Seither war er dort bei der Aus- und Weiterbildung der Notfallmedizin tätig. „In fünf Tagen gab es sechs türkische Drohnenangriffe“, sagte er.
Verhinderte der erste Angriff der Türkei („Euphrates Shild, 2016), dass Afrin eine Verbindung zum Rest des kurdischen Gebiets gab, marschierte die türkische Armee 2018schließlich ganz in Afrin ein. Auch 2019 flohen hunderttausende Menschen vor der dritten Militäroffensive nach Rojava. „Bei den Angriffen der türkischen Luftwaffe kommt es zu Kriegsverbrechen erster Ordnung“, kommentierte er deren Vorgehen.
Vorbildliche Frauenemanzipation
Eine der großen Errungenschaften von Rojava sieht Wilk in der Gleichberechtigung von Mann und Frau, was beispielsweise an den verpflichtenden Doppelspitzen aller Ämter erkennbar sei. Hier nähme die Selbstverwaltung im Vergleich zu europäischen oder arabischen Ländern eine Vorbildfunktion ein. Doch komme es auch immer wieder zu Konflikten mit traditionell-patriarchalen Familienstrukturen. Respekt zollt er der kommunalistischen Ausrichtung der PKK unter Abdullah Öcalan. „Es ist ein gewaltiger Emanzipationsprozess in arabischen Clan-Strukturen unter einer einst zentralistischen Regierung“, beschrieb er das Modell Rojava.
Demokratischer Konföderalismus
„Der Demokratische Konföderalismus gibt den verschiedenen Gruppen Raum, sich selbst zu organisieren“, erläuterte Müslüm Örtülü vom kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit das System. Alles basiere auf basisdemokratischen Strukturen, wobei der geltende „Gesellschaftsvertrag“ von der dort lebenden kurdischen, aramäischen, jesidischen und arabischen Bevölkerung kontinuierlich neu ausgehandelt werde. „In diesem System sind alle ethnischen, religiösen oder parteipolitischen Gruppierungen vertreten“, stellte er die ganzheitliche Einbindung der Menschen dar.
Weiterführende Links:
- Medico international (9.8.2022): 10 Jahre Rojava – https://www.youtube.com/watch?v=5FVHF04tOZU
- Die Linke SC-RH (12.7.2022): Rosa Luxemburg und die kurdische Frauenbewegung – https://www.die-linke-schwabach-roth.de/international/rosa-luxemburg-und-die-kurdische-frauenbewegung/
- Arte (2015): Rosas kurdische Töchter. Der Freiheitskampf der Kurdinnen – https://www.youtube.com/watch?v=8jN2PzOTkHo