Türkei: HDP-Politiker*innen im Exil

23. April 2023  Europa
Geschrieben von Kreisverband

Logo der Demokratischen Partei der Völker (Quelle: Halkların Demokratik Partisi, https://www.hdp.org.tr/)

Verhaftungen politischer Gegner*innen und die Gleichschaltung der Türkei unter einen religiösen Nationalismus gehören zur Herrschaft von Recep Tayyip Erdoğan. Dies stellten drei HDP-Politiker*innen in dem Dokumentarfilm „Gefängnis oder Exil – abgesetzte HDP-Bürgermeister*innen im Exil“ klar, die aufgrund der staatlichen Repression fliehen mussten.

Rigorose Türkisierungspolitik

Fırat Anlı wurde mit Diyarbakır (kurdisch für: Land von Ahmed) in der gleichnamigen Provinz in der Stadt geboren, in der er später Oberbürgermeister werden sollte. „Bis zum Abitur schämte ich mich, kurdisch zu sprechen, denn uns wurde erklärt, dies sei gleichbedeutend mit Rückständigkeit und Unreife“, erläuterte er rückblickend die türkische Bildungspolitik. Erst mit der Zeit habe er verstanden, dass Kurd*innen ein eigenständiges Volk mit eigener Sprache, Kunst, Kultur und Geschichte seien. Damals habe es viel Folter und Unterdrückung gegenüber der Minderheit gegeben. „3.000 Dörfer wurden in Brand gesteckt und so unzählige Existenzen vernichtet“, beschrieb er die Situation in der Provinz.

Gleichschaltung statt Demokratie

Dies änderte sich erst 1999, als kurdische Politiker*innen bei den Wahlen zahlreiche Kommunalämter errangen. „Es wurden Parks und Gärten zum Schutz der Umwelt angelegt sowie Förderprogramme für Kinder und Frauen gestartet“, sagte Anlı über die herrschende Aufbruchsstimmung. 2009 kam es zu weiteren großen Wahlerfolgen in vielen Stadträten und Bezirksverwaltungen. Doch das Erstarken der kurdischen Demokratie-Bewegung führte zu einer drastischen Reaktion der Staatsregierung. „Einen Monat später kam es zu großangelegten Razzien, in deren Folge auch ich und hunderte weitere Amtsträger*innen verhaftet wurden“, schilderte der abgesetzte Oberbürgermeister. Die jeweiligen Kommunen wurden nun unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt und überall türkische Fahnen aufgehängt.

Nationalismus und Unterdrückung

Der Politiker war 40 Monate im Gefängnis, bis er aus der Haft entlassen wurde. Doch drei Tage später wurde ein erneuter Haftbefehl gegen ihn ausgestellt. „Wegen meiner Reden an Newroz, dem Tag der Muttersprache und weil ich den Bau einer Wasserleitung ermöglicht habe, wurde zweimal ‚lebenslänglich‘ gefordert“, berichtete er über die Anschuldigungen. Er tauchte unter und floh ins Ausland. „Der türkische Staat gründet sich auf der Ideologie von einer Sprache, einer Nation und einer Religion“, bilanzierte er. Meinungen, die der AKP/MHP-Regierung widersprächen, würden verfolgt und unterdrückt.

Solidarität mit Gefangenen

Nursel Aydoğan wurde als türkische Sunnitin in Bursa geboren. Sie erfuhr von der Unterdrückung der Alevit*innen und Kurd*innen in der Türkei erst während ihres Studiums an der Universität. Durch ehrenamtliches Engagement kam sie zu den sog. Solidaritätsvereinen, die Familien von Häftlingen unterstützten. „Ich gründete die Partei der demokratischen Gesellschaft mit und war drei Legislaturperioden Parlamentsabgeordnete für die Provinz Diyarbakır“, erläuterte sie ihren politischen Werdegang.

Islamismus als Politik

Zwischen 2013 und 2015 kam es zu einem demokratischen Friedensprozess, der die „Kurd*innenfrage“ in der Türkei auf friedliche, demokratische und dialogische Weise lösen sollte. Doch am 5. April 2015 kündigte Erdoğan den Friedensprozess auf. „Das war etwa 1,5 Monate vor der nächsten Wahl“, stellte Aydoğan fest. Im Anschluss stimmten sowohl AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) wie auch MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) und CHP (Republikanische Volkspartei) für eine Verfassungsänderung, welche die Immunität der HDP-Abgeordneten aufhob. Ein Gericht verurteilte die Parlamentarierin zu 4 Jahren und 8 Monate Haft. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt Aydoğans Immunität noch nicht aufgehoben, so dass sie rechtzeitig ins Ausland fliehen konnte. „Für mich sind AKP-Politiker*innen politische Islamist*innen“, erklärte sie. Nach der Verhaftung von Abgeordneten und Bürgermeister*innen der HDP ging die Regierung zur Verfolgung von einfachen Bürger*innen über, etwa, weil diese an einer Kundgebung oder Pressekonferenz teilgenommen hatten.

Morde und Gewalt

Zülküf Karatekin, einstiger Bauingenieur und Vorsitzender der Ingenieurskammer von Diyarbakır, erinnerte sich ebenfalls an die Zeit der staatlichen Gewalt. „Anfang der 90er Jahre kam es in Kurdistan zu Krieg, Dorfverbrennungen und unaufgeklärten Morden. Auch mein Dorf wurde angegriffen“, erzählte er. Er selbst verlor seinen Beamtenstatus und wurde in die Westtürkei verbannt.

Opposition wird verhaftet

2001 gründete er die Özgür Parti, die bei der Wahl jedoch an der staatlich festgelegten 10 Prozent-Hürde scheiterte. Bei den Kommunalwahlen 2004 wurde Karatekin hingegen mit 58 Prozent der Stimmen in Kayapinar- Diyarbakır zum Bürgermeister gewählt. „Fast alle gewählten kurdischen Bürgermeister*innen kamen ins Gefängnis“, beschrieb er die darauffolgende Zeit der Verhaftungen. Er selbst wurde zu 4 Jahren und 7 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Ein zweiter Prozess sah schließlich 9 Jahre Gefängnis für den Oppositionspolitiker vor. Anfang 2020 floh er deshalb ins Ausland und ließ Freund*innen, Bekannte und Familie in der Türkei zurück. „Die Regierung möchte das Gedächtnis der Menschen auslöschen und alles gleichschalten“, kommentierte er die Politik unter Erdoğan.

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