Harry Kahn: Jüdisches Leben nach dem Krieg

18. Dezember 2022  Geschichte
Geschrieben von Kreisverband

Jüdischer Friedhof bei Baisingen (gemeinfrei)

Antisemitische Einstellungen in der Dorfgemeinschaft und staatliche Widerstände bei Entschädigungszahlungen prägten das Leben zurückgekehrter Jüd*innen in der jungen Bundesrepublik. Das Landesarchiv Baden-Württemberg stellte dies am Beispiel des Baisinger Viehhändler Harry Kahn dar.

„Vergessen, ihn zu vergasen“

„Als fünfjähriger Bub ging ich 1952 mit meinen Eltern nach einem Viehmarkt in Nagold in eine dortige Gaststätte“, erzählte der heutige Arzt Freddy Kahn. Plötzlich sei sein Vater Harry in den Nachbarraum gestürmt und es sei zu einem Handgemenge gekommen. „Einer der Bauern hatte gesagt: ‚Schade, dass man den Harry vergessen hat, zu vergasen!‘“, schilderte der Sohn die damalige Situation.

Wirtschaftswachstum dank Jüd*innen

Der erste erwähnte jüdische Vorfahre Freddys, Moses Ha Kahn, kam Ende des 17. Jahrhunderts von Österreich in das württembergische Dorf Baisingen, wo er von den Grafen von Stauffenberg einen Schutzbrief erhielt. Dieser erlaubte den freien Handel sowie die uneingeschränkte Religionsausübung. 1864 erfolgte die rechtliche Gleichstellung von Jüd*innen im Königreich Württemberg.

In Baisingen (Lkr. Rottenburg) waren rund 30 Prozent der Bevölkerung jüdisch, wobei die meisten im Viehhandel tätig waren. Die so geschaffenen Arbeitsplätze und gestiegenen Steuereinnahmen führten auch bei den christlichen Bauern zu einem höheren Wohlstand.

Familie in Lagern ermordet

„Die jüdische Gemeinde hatte eine Synagoge, ein Tauchbad, eine eigene Schule sowie einen Friedhof“, skizzierte Kahn das Leben in Baisingen. Dies änderte sich jedoch mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten. Sein Vater wurde 1941 zusammen mit seiner schwangeren Frau nach Riga deportiert, wo sie gemeinsam mit der Mutter ermordet wurde. Der 93-jährige Großvater starb im Konzentrationslager Theresienstadt. Harry selbst überlebte vier Jahre in acht verschiedenen Lagern, bis er als 35-Jähriger in sein Heimatdorf Baisingen zurückkam.

„Ein Nachbar schenkte ihm einen gebrauchten Anzug“, schilderte Kahn eine glückliche Begegnung. Selbiger hatte die Synagoge gekauft und sie durch die Nutzung als Geräteschuppen vor dem Abriss bewahrt. Doch niemand aus der Dorfgemeinschaft hätte seinen Vater jemals nach seinen Erlebnissen in den Konzentrationslagern gefragt.

Berufsverbot und Pogrom

Die Ethnologin Franziska Becker versuchte, die Situation Ende der 30er Jahre greifbar zu machen. „Der Viehwirtschaftsbund Württemberg unterstützte die staatliche Diskriminierung, indem er die jüdischen Händler 1938 von den Viehmärkten ausschloss“, beschrieb sie eine Maßnahme, die de facto einem Berufsverbot gleichkam. Während der Reichspogromnacht zerstörten rund 80 SA-Männer die Synagoge und verwüsteten 13 Wohnungen jüdischer Einwohner. Einige Männer wurden ins Konzentrationslager Dachau gebracht.

Nachbarn bereichern sich

Die verbliebene jüdische Bevölkerung fiel den Deportationen nach Riga (1941), Lublin (1942) und Theresienstadt (1943) zum Opfer. Doch vor den Deportationen erhoben die örtlichen Finanzämter penibel das Vermögen der jüdischen Bürger*innen, um es im Anschluss unter der deutschen Bevölkerung zu versteigern. Diese konnte sich so kostengünstig mit Samtmänteln, Bodenteppichen oder Ölgemälden eindecken, erläuterte Becker. Befragt zu dem Verbleib der ursprünglichen Eigentümer hieß es lapidar: „Die sind zum Schaffen in den Osten gekommen.“

Täter sollen Tat aufklären

1945 forderte die französische Militärverwaltung die Finanzämter auf, die Rückgabe von Raubgut zu organisieren. „Die Recherchen verliefen fast immer erfolglos“, kommentierte Becker den Versuch, die einstigen Täter mit dem Erstattungsprozess zu betrauen. Schließlich ging Harry selbst von Tür zu Tür, um nach den Einrichtungsgegenständen des elterlichen Hauses zu suchen. „Manche der früheren Nachbarn verlangten sogar eine Aufbewahrungsgebühr, um zusätzlich Geld für das geraubte Material zu bekommen“, gibt sie Zeugenaussagen wieder. In der Dorfgemeinschaft kursierten auch Gerüchte, Harry wäre überhaupt nicht in einem Konzentrationslager gewesen.

Entschädigung: jahrelange Ablehnung

Ein Dorfpolizist, der die Deportationszüge zum Bahnhof begleitet hatte, befragte Harry nach Kriegsende nach seinem früheren Besitz hinsichtlich einer möglichen Wiedergutmachung. Entsprechende Anträge stießen seit 1949 auf die Ablehnung der Behörden. Erst 1953 erhielt Harry 10.000 Mark als Verdienstausfall während der vierjährigen Lagerhaft. Bundesweit dauerte es sogar bis 1956, bis Entschädigungsanträge aufgrund von Lagerinhaftierung und damit einhergehender Schaden des beruflichen Fortkommens oder verlorengegangene Rentenansprüche bearbeitet wurden.

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