Armutszeugnis. Von Klassenfragen und Aufstiegsmärchen

19. März 2024  Wirtschaft
Geschrieben von Kreisverband

Grafik: Rosa-Luxemburg-Stiftung, bearbeitet

Die Benachteiligung von Frauen und Migrant*innen im kapitalistischen Wirtschaftssystem und das Ausspielen finanziell Schlechtgestellter zugunsten von Unternehmen war Thema bei der zweiten Folge von „Armutszeugnis“. Der wirtschaftspolitische Podcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung hinterfragt das neoliberale Aufstiegsmärchen.

Der „kleine Mann“ zahlt

„In der herrschenden Klassengesellschaft ist die Mehrheit gezwungen, für einige Wenige zu arbeiten“, erklärte Sabine Nuss. Im Gegensatz zu dem verbreiteten Mythos, dass vor allem Besserverdienende die Steuerlast trügen, erläuterte die ehemalige Geschäftsführerin des Karl Dietz Verlags, dass der Staat durch die Mehrwertsteuer 2022 285 Milliarden Euro eingenommen habe. „Durch die Steuer auf Lebensmittel und Dinge des alltäglichen Gebrauchs sind besonders Geringverdienende überproportional belastet“, führte sie aus. Die Lohnsteuer hingegen hätte mit 272 Milliarden Euro weniger eingebracht. Diese werde von den reichsten 10 Prozent, die 38 Prozent der Einkommen auf sich vereinigten, zu gut der Hälfte bestritten.

Abhängigkeit damals und heute

Die Bundesbank habe erneut betont, dass Betriebsvermögen die am ungleichsten verteilte Vermögensgröße sei, rief Nuss in Erinnerung. „Wir denken oft, dass heutzutage alle die gleichen Ausgangsbedingungen hätten und man mit genügend Anstrengung den finanziellen Aufstieg schaffen könne“, bezog sie sich auf das weitverbreitete individualisierte Leistungsdenken. Sei im Mittelalter die Abhängigkeit leibeigener Bäuer*innen mit Zehnt und Frondienst offensichtlich gewesen, verschleiere die heutige Lohnauszahlung, dass ein großer Anteil nicht den Arbeiter*innen, sondern den Eigentümer*innen der Produktionsmittel zugute käme.

Kapitalismus trennt Menschen

Betiel Berhe, die in den 80er Jahren mit ihren Eltern aus Eritrea nach Deutschland kam, hatte viel Rassismus, Sexismus und Klassismus – also Diskriminierung aufgrund der eigenen sozialen Position – erfahren. „Die Klassengesellschaft führt dazu, dass die Menschen in komplett verschiedenen Welten aufwachsen“, zeigte die Autorin von „Nie mehr leise“ auf. Die weißen Bewohner*innen in einer bürgerlichen Reihenhaushälfte hätten andere Realitäten als Menschen in migrantischen Arbeiter*innenviertel oder Kinder einer reichen Unternehmensfamilie. „Spätestens wenn wir alt sind, sind wir arm“, sprach sie das Problem von Arbeiter*innen und Altersarmut an. Bei Mittelschichtsfamilien bestünde die größte Schwierigkeit hingegen darin, ob das Kind Klavier oder Klarinette lernen solle.

Überausgebeutete Migrant*innen

Für Berhe habe der Kapitalismus sowohl ökonomische Ungleichheit als auch unbezahlte Care-Arbeit für Frauen zur Folge. „In unserer Gesellschaft werden nicht-weiße Menschen überausgebeutet“, thematisierte sie die Lebensumstände von illegal arbeitenden Personen. Sie würden weit unter dem Mindestlohn bezahlt und bekämen ihre Arbeitsschutzrechte nur in den seltensten Fällen zugestanden. Unter diesen Bedingungen müsse die Frage um Care-Arbeit neu gedacht werden. So dürfe sie sich nicht darauf beschränken, dass ein akademisch gebildeter Vater ein Sabbatical nehme, um die Erziehung seines Kindes zu übernehmen. Auch die Situation prekär Beschäftigter, beispielsweise Migrant*innen auf italienischen Tomatenfeldern, müsse miteinbezogen und verbessert werden.

Arbeitsfeld Niedriglohnsektor

Auf die Lebenssituation von Menschen mit Migrationsgeschichte wies auch Eva Völpel, RLS-Referentin für Wirtschafts- und Sozialpolitik, hin. So hatte das Statistische Bundesamt eine Studie vorgelegt, gemäß der ab 1950 nach Deutschland eingewanderte Menschen zwar nur 25 Prozent der Erwerbstätigen ausmachten, sie jedoch überproportional in schlecht bezahlten Berufen vertreten seien. So hätten 40 Prozent der Arbeiter*innen im Hochbau, über 45 Prozent in der Gastronomie und fast 60 Prozent in der Reinigungsbranche eine Einwanderungsgeschichte.

Unbezahlte Sorgearbeit

Doch auch zwischen den Geschlechtern besteht noch viel Ungleichheit. „Frauen leisten pro Woche 9 Stunden mehr unbezahlte Arbeit als Männer“, sprach sie die Ergebnisse der aktuellen Zeitverwendungserhebung an. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung habe 2023 festgestellt, dass Frauen mit 34 Jahren täglich 9 Stunden unbezahlte Sorgearbeit verrichteten, Männer hingegen nur 3. Die Schweizer Initiative Close Econ Data Gap habe darüber hinaus errechnet, dass es bei den Frauen durch die unentgeltliche Care-Arbeit zu einer Einkommenslücke von 380 Milliarden Euro komme.

Streik für bessere Bedingungen

Eine positive Entwicklung sah Völpel darin, dass im Baskenland zehntausende Frauen ihre Arbeit niedergelegt hätten, um für ein öffentliches Sorgesystem zu demonstrieren. Die Streiks hätten in Schulen und Krankenhäusern, aber auch im Öffentlichen Nahverkehr und der Verwaltung stattgefunden. „Selbst in Metall-Betrieben schlossen sich Männer den Forderungen der Frauen an“, erläuterte sie die branchen- und geschlechterübergreifende Bewegung.

Unternehmen oder Arme?

Kritik fand sie hingegen im aktuellen Ausspielen sozialer Themen gegen die Forderungen der Wirtschaft, etwa möglichen Kürzungen beim Bürger*innengeld. „In den vergangenen 20 Jahren sind die deutschen Sozialausgaben im OECD-Vergleich besonders langsam gestiegen“, mahnte sie an. Vielmehr sei die Zahl der Empfänger*innen von Bürgergeld sogar um eine Million gesunken. Steuerentlastungen für Unternehmen stehe sie kritisch gegenüber. „Es kann sein, dass die Steuersenkungen direkt in die Taschen der Aktionär*innen fließen“, warnte sie.

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