Gramsci heute – Hegemonie und Neoliberalismus

08. Juli 2022  Politik
Geschrieben von Kreisverband

Antonio Gramsci (Quelle: RLS, Podcast tl;dr #3)

Aktuelle krisenhafte Umbrüche unserer Zeit sowie den Kampf von Staaten um weltpolitische Hegemonie mit Hilfe eines italienischen Marxisten erklären – das war der Inhalt des Vortrags „Neogramscianische Internationale Politische Ökonomie“. Dieser wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen organisiert.

Gramsci: Staat oder Revolution

Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling (Universität Tübingen) skizzierte das Leben des italienischen Marxisten und Antifaschisten Antonio Gramsci (1891-1937). Der Journalist ging der Frage nach, warum die Revolution von 1917 nur im zaristischen Russland erfolgreich gewesen war, in allen westlichen Ländern Europas hingegen scheiterte. Im Zarenreich war der Staat absolut, die Zivilgesellschaft jedoch marginal gewesen. Als die Bolschewiki sich des Staates bemächtigten, gehörte ihnen gleich das ganze Land. Im Westen jedoch existierte eine starke Zivilgesellschaft, die den wankenden Staat stützen konnte. „Die Herrschaft des Staates gründet sich auf die Zustimmung der Beherrschten“, erläuterte Bieling das Konzept der Hegemonie. Konzepte wie der bürgerliche Liberalismus würden seitens der Herrschenden durch Presse, Schule oder Parteien als erstrebenswertes Ziel propagiert. Deshalb sei es aus linker Sicht wichtig, dieser Meinungshoheit ein eigenes Gesellschaftsprojekt entgegenzusetzen.

Klassenkampf und Freihandelsabkommen

Internationale Politische Ökonomie analysiere globale Machtverhältnisse, in denen der Nationalstaat die Arena für Klassenkämpfe zwischen der Arbeiter*innenbewegung und dem Kapital sei. Intellektuelle versuchten etwa, Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA oder dominante Produktionsweisen über alle Staaten hinweg auszudehnen. Dabei erfolge diese Durchdringung wirtschaftlich, politisch und sozial. „Einerseits binden die herrschenden hegemonialen Kräfte bestimmte Bevölkerungsgruppen durch materielle oder ideologische Anreize“, erläuterte der Politikwissenschaftler die Strategie. Andererseits würden oppositionelle Gruppierungen marginalisiert.

Krise und Konkurrenz

Sowohl die Finanzkrise (2008) wie auch die Corona-Pandemie (2020) hätten die neoliberale Weltordnung erschüttert, sagte er. Der Aufstieg der Volksrepublik China forderte die bisherige Hegemonialmacht USA heraus. Das Hinterfragen der Globalisierung aus linker Perspektive wie auch ein aggressiver Nationalismus von rechts seien Reaktionen auf die Probleme des Systems. In Südkorea oder Japan hingegen hätte sich nicht die Privatwirtschaft, sondern der Staat selbst als wichtiger ökonomischer Entscheidungsakteur entpuppt.

Neoliberalismus oder Demokratie

Im Wissenschaftsdiskurs sähe die „Amsterdamer Schule“ transnationale Kräfte oder einzelne Kapitalfraktionen (Industrie-, Finanzkapital) als maßgeblich an. Das westliche Modell gewährleiste mittels Rechtsstaatlichkeit zivile Freiheiten und sichere individuelle Eigentumsrechte. Konkurrierende Hegemonie-Modelle seien hier der deutsche Faschismus oder der sowjetische Staatskapitalismus gewesen. Die konstitutionelle Strömung lege den Fokus hingegen auf die Verrechtlichung marktliberaler Wettbewerbsvorgaben durch die Welthandelsorganisation, Internationalen Währungsfond oder den EU-Binnenmarkt. Bestimmte Gesellschaftsbereiche würden so der demokratischen Kontrolle von Parlamenten entzogen. Hoffnung setzte Bieling in hegemoniale Gegenprojekte, welche durch NGOs, Gewerkschaften oder linke Parteien vorangetrieben werden würden.

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