Die dunkle Seite der Christdemokratie

24. April 2024  Politik
Geschrieben von Kreisverband

Viktor Orban und Angela Merkel beim Gipfel der Europäischen Volkspartei in Brüssel, März 2017 (European People’s PartyEPP Summit, Brussels, March 2017, CC BY 2.0)

Die Zusammenarbeit christdemokratischer Parteien mit Rechtspopulist*innen auf europäischer Ebene in der heutigen Zeit und die Geschichte eines autoritär orientierten Katholizismus unter der Leitung eines starken Führers waren Thema bei dem Vortrag „Die dunkle Seite der Christdemokratie“. Dieser wurde von der Stiftung Demokratie Saarland organisiert.

Distanz zur liberalen Demokratie

Die christdemokratischen Parteien Europas sind seit den vergangenen 15 Jahren mehr und mehr von rechtspopulistischen Parteien unter Druck gesetzt worden, diagnostizierte Fabio Wolkenstein. Letztere wollten sogenannte „christliche Werte“ neu definieren und haben oftmals ein angespanntes Verhältnis zur liberalen Demokratie. „Seit 2015 zeigte die ÖVP gegenüber der FPÖ Kooperationsbereitschaft bis hin zur Regierungsbeteiligung“, blickte der Wissenschaftler aus Wien zurück. Vor allem in Fragen der Migrationspolitik hätten sich die Konservativen den Rechtspopulist*innen angenähert.

Verfassungsänderung nach Wahl

Die Fidesz-Partei von Viktor Orban kann als die rechtspopulistische Organisation schlechthin betrachtet werden. Nach dem Wahlsieg von 2010 ging sie mit ihrer 2/3-Mehrheit daran, sowohl die Verfassung als auch die Wahlgesetze zu ihren Gunsten zu ändern. So wird nun automatisch die stärkste Partei bei der Sitzplatzvergabe bevorteilt. „Wie in den USA werden die Stimmbezirke so zusammengefasst, dass die meisten Wahleinheiten an Fidesz gehen“, erklärte Wolkenstein. Wahlkampf in privaten Medien wurde verboten, so dass die loyalen Fidesz-Anhänger*innen im staatlichen Rundfunk über die Ausstrahlung oppositioneller Werbespots entscheiden.

„Wunschliste der Linksparteien“

Ebenso wurde das Verfassungsgericht, die Staatsanwaltschaft und der Rechnungshof mit Parteianhänger*innen besetzt. „In Ungarn wird der gesamte Staatsapparat von einer Partei kontrolliert“, fasste der Politologe das System Orban zusammen. Da dadurch europäische Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedroht wurden, kritisierte ein Ausschuss des EU-Parlaments im „Tavares-Bericht“ 2013 die enorme Machtkonzentration infolge des Staatsumbaus. Die christdemokratische Fraktion „Europäische Volkspartei“ (EVP) widersetzte sich jedoch Sanktionen. Vielmehr sah Manfred Weber (CSU) darin eine „Wunschliste der europäischen Linksparteien, die Ungarn ihre eigene Agenda aufzwingen wollen.“ Erst ein Jahrzehnt später verließ Orbans Fidesz-Partei die EVP.

Autokonzerne und harte Grenzen

Wohl, weil Fidesz der EVP dank der Wahländerung regelmäßig eine stabile Mehrheit im Parlament einbrachte und Automobilkonzerne wie Mercedes, Audi und Opel von den geringen Lohnkosten und geringen Unternehmenssteuern in dem Land profitieren, sah man als christdemokratische Fraktion über Demokratieverstöße gerne einmal hinweg. Auch, dass sich Orban gegen die liberale Flüchtlingspolitik Angela Merkels (CDU) positionierte, wird Politiker*innen in CSU und ÖVP imponiert haben, vermutete Wolkenstein.

Demokratieabbau in Serbien

Ähnlich wie in Ungarn läuft es auch mit Serbien unter Präsident Aleksandar Vučić. Als Informationsminister unter Slobodan Milošević forderte er, dass für einen getöteten Serben 100 muslimische Bosniaken sterben müssten. Seit dem Regierungsantritt seiner Fortschrittspartei 2010 hat die demokratische Qualität in Serbien massiv abgenommen. Wahlbetrug und Einschüchterung von Oppositionspolitiker*innen sind Normalität. Seit 2016 ist die Fortschrittspartei assoziiertes Mitglied der EVP. EU-Resolutionen wegen Einschränkung der Medienfreiheit, dem steigenden Einfluss von Politiker*innen auf die Justiz oder der Erosion der Demokratie werden seitens der EVP regelmäßig abgelehnt.

Lupenreine Demokrat*innen

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) erklärte, dass Europa Serbien dringend brauche. Sowohl Söder als auch sein früherer österreichischer Kollege Sebastian Kurz (ÖVP) hatten den Orden Serbiens 2. Klasse erhalten. 2013 hieß der Medaillen-Empfänger der 1. Klasse Wladimir Putin, 2016 war es der chinesische Staatspräsident Xi Jinping.

Ständestaat ohne Freiheit

„Christdemokratische Parteien sind stark vom Katholizismus geprägt“, erläuterte der Wissenschaftler. Dass dies nicht automatisch gleichbedeutend mit Demokratie sei, könne man am österreichischen Ständestaat von Engelbert Dollfuß sehen, als die Christliche Soziale Partei 1934 das Parlament ausschaltete (Austrofaschismus). Vergleichbares sei im portugiesischen „Estato Novo“ 1933 unter António de Oliveira Salazar geschehen. Dieser hatte eine kooperative Staatsform begründet, die unter Rückgriff auf den Katholizismus eine gesellschaftliche Harmonie, allerdings ohne soziale Gerechtigkeit und demokratische Freiheiten anstrebte.

Ungerechtigkeit verwalten

Die päpstlichen Enzykliken von 1891 und 1931, auf die sich diese Anschauung beriefen, propagierten eine natürliche Ordnung, die sich in hierarchischen Berufsständen und einem traditionellen Familienbild niederschlugen. Ziel war die Eintracht und das Gemeinwohl. „Papst Leo XIII. wollte die Ungerechtigkeit nicht abschaffen, er wollte sie harmonisch verwalten“, stellte Wolkenstein die Sichtweise von katholischer Soziallehre und Sozialismus gegenüber.

Gesellschaftliche Milieus integrieren

Die christdemokratischen Parteien der Nachkriegszeit wollten die verschiedenen Milieus mit Hilfe von Klassenkompromissen integrieren. Dies hatte schon die 1870 gegründete katholische Zentrumspartei erfolgreich vorgemacht, die sich sowohl an bürgerlich Aufgeklärte wie auch antiliberal eingestellte Unterschichten sowie Arbeiter*innen richtete, die gegen die sozialen Missstände aufbegehrten. So versuchte der französische Mouvement Républicain Populaire die Interessen der konservativen Bauernschaft ebenso aufzugreifen wie die der städtischen Arbeiter*innen. Die italienische Democrazia Christiana integrierte einstige Anhänger*innen des Faschisten Benito Mussolini und monarchisch eingestellte Parteigänger*innen in das demokratische System, die CDU vereinte Katholik*innen und Protestant*innen in einer gemeinsamen Partei.

Konservative und Faschismus

Doch bei all diesen gesellschaftlichen Integrationserfolgen bestehe auch stets die Gefahr der mangelnden Abgrenzung von antidemokratischen Kräften. So brachte man in den 60er Jahren der frisch gegründeten NPD Verständnis entgegen, da diese schließlich auch stramm antikommunistisch eingestellt sei. Kurt Georg Kiesinger (CDU) traf sich mit dem spanischen Diktator Francisco Franco, Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) sah die Diktatur als Teil der europäischen Wertegemeinschaft, da Spanien ein Garant für antikommunistische Stabilität sei. Der Bundestagsvizepräsident (und ehemaliges SA-Mitglied) Richard Jaeger (CSU) bezeichnete das katholische Regime als einen der wenigen Freunde, die Deutschland in der Welt habe. Und Franz Josef Strauß (CSU) reichte dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet beim Regierungsbesuch freudig die Hand.

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