Populismus und Neoliberalismus

15. August 2023  Europa
Geschrieben von Kreisverband

Treffen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (Mitte) mit dem Sprecher der russischen Staatsduma Vyacheslav Volodin (rechts), 3.6.2023 (Duma.gov.ru CC BY 4.0)

Autoritäre Regime und rechter Populismus entstehen als Gegenbewegung zum Neoliberalismus. Diese Aussage untermauerte der Soziologieprofessor Cihan Tuğal am Beispiel Türkei. Die Veranstaltung „Why Did Erdoğan Win the Turkish Elections?“ wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert.

Marktreform und Prekarisierung

Zur Entstehung populistischer Regierungen hat der Dozent der University of California, Berkeley, eine klare Meinung. „Das ist eine Reaktion auf die Nichterfüllung der liberalen Hoffnungen der 2000er Jahre, dass die freien Märkte zu Wohlstand für alle führen“, erklärte er. Stattdessen waren die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten sowie die Desorganisation der Zivilgesellschaft die Folge. „Der Rechtspopulismus sieht sich als eine Gegenbewegung dazu“, sagte Tuğal.

Staatskapitalismus stützt Bourgeoisie

Dabei stützten sich die Regime auf Kapitalakkumulation, eine nationale Bourgeoisie sowie breite sozialpolitische Koalitionen. In der Türkei kam es ab den 80ern zu großangelegten Privatisierungen, die etwa von IWF und Weltbank angestrebt wurden. Der Bausektor mit seinen prekären Beschäftigungsbedingungen erhielt zahlreiche staatliche Aufträge, so dass sich hier die Profiteure des Systems zeigten. „Die Stahl- und Rüstungsindustrie gehören ebenfalls zur so gebildeten staatskapitalistischen Bourgeoisie“, erläuterte der Wissenschaftler. Letztere mache beispielsweise lohnende Geschäfte mit türkischen Drohnen.

Neues Imperium am Mittelmeer

Die wichtige Rolle der Rüstungsindustrie werde auch in der expansiven Außenpolitik des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan deutlich. So solle die Türkei, vergleichbar mit dem Osmanischen Reich, zur imperialen Macht im Mittelmeer aufsteigen. Zugleich versuche der NATO-Partner, sich als Vermittler zwischen West und Ost – den Vereinigten Staaten, der EU, Russland, Iran und der Volksrepublik China – zu etablieren.

Hilfe durch staatsnahe Gewerkschaften

2015 kam es zu großangelegten Streiks der Metallarbeiter*innen. Dem begegnete die AKP- geführte Regierung (AKP: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) durch den Aufbau parteinaher Gewerkschaften, die stark religiös geprägt waren. So wurde in diesen Organisationen die islamische Bildung gefördert sowie eigene Sozialmaßnahmen stark ausgebaut. „Das ging sehr zulasten der alten Gewerkschaften wie auch der gebildeten Mittelklasse“, ging Tuğal auf die gesellschaftlichen Folgen ein.

Ständige Mobilisierung der Massen

Diese religiösen Unterstützungsnetzwerke halfen der Regierung auch bei der Versorgung der syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge, die im Zuge des EU-Flüchtlingsdeals (2016) im Land blieben. Dadurch bekam die Türkei einerseits von der Union dringend benötigtes Geld, andererseits durch die Flüchtlinge viele billige Arbeitskräfte.

Hat die AKP rund 11 Millionen Mitglieder, ist ihr Einfluss in der türkischen Gesellschaft doch deutlich größer. „Die ‚integrale Partei‘ ist beträchtlich, erklärte der Soziologe, und meinte damit bürgerschaftliche Organisationen, Nachbarschaftshilfen, religiöse Schulen oder Berufsverbände in deren Umfeld. „Sie alle prägt eine Art Paranoia, dass alles, was gegen Erdoğan gerichtet ist, den Aufstieg der Türkei verhindern will“, beschrieb er das gesellschaftliche Klima. Dies nutze der Präsident für eine ständige Mobilisierung der Massen.

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